Heute: Belgien
Es ist alles in Ordnung, dachte er, mit Ausrufezeichen und mit Fragezeichen, solange die Scham stärker brennt als die Todesangst. Er war dann nur eine Viertelstunde zu früh im l’Ogenblik. Er trank ein Glas Champagner, während er auf Philippe wartete. Philippe war Leiter des EDV-Zentrums der Brüsseler Polizei, fünfzehn Jahre junger als Brunfaut und trotz dieses Altersunterschieds sein bester Freund. Nicht zuletzt verband sie, dass sie beide “Träger des nassen Schals” waren, so nannten sie sich als Anhänger des Fußballclubs RSC Anderlecht, die kaum ein Heimspiel versäumten – sie hatten so viele Tränen in ihren Fan-Schal geweint, dass er nie weider trocken werden konnte. Sie waren, wie sie bei einem Bier nach der Arbeit einemal feststellen, beide der Meinung, dass nach dem unfassbaren Bestechungsskandal, damals, als bekannt wurde, dass der Club vor dem Halbfinalrückspiel im UEFA-Cup gegen Nottingham Forest den Schiedsrichter mit 27 000 britischen Pfund bestochen hatte, ein Zeichen hätte gesetzt werden müssen, ein Zeichen für einen Neubeginn. Und wenn es auch nur ein ganz simpel symbolisches gewesen wäre, ein kleine Änderung im Vereinsanmen, um klarzumachen, dass ab jetzt dieser Verein neu startete und nichts mehr mit Korruption und Bestechungen zu tun hatte. RSC Anderlecht – wie hätte die Änderung aussehen können? Das R streichen, hatte Émile Brunfaut gesagt, nur um ein Zeichen zu setzen.
Aber warum das R.?Le Roi, la Loi, la Liberté! Worauf können wir verzeichten? Le Roi!
Sie lachten. So fanden sie sich auch schnell politisch in Übereinstimmung, in Hinblick auf das belgische System, auf diesen zerrissenen Staat, der nicht hilflos durch einen König zusammengahlten werden sollte, sondern durch den gemeinsamen Rechtszustand einer Republik. Obwohl: Die Entscheidung des Königs, in der Zeit, in der Belgien den EU-Ratsvorsitz innehatte, keine Regierung zu ernennen, um die notwendigen europapolitischen Entscheidungen nicht durch innenpolitische Koalitionsstreitereien zu blockieren, fanden sie beide gut. Nie, sagte Philippe, hatte Belgien besser funktioniert als in dieser Zeit ohne Regierung.
Sie pilgerten ins Constant-Vanden-Stock-Stadion in Anderlecht, wieinten in ihre Schals und neckten einander. Philippe schwärmte davon, dass er noch Franky Vercauteren hatte spielen sehen, so einen bräuchten sie heute wieder, einen genialen Torjäger. Ach, du hast ja keine Ahnung, hatte Émilie gesagt, er, der Ältere, hatte noch Paul van Himst gesehen, gegen den war Vercauteren schon eine lahme Ente.
War früher alles besser? nichts war besser, es war einfach alles ganz anders.
Ja, sicher! Anders! Aber war es nicht doch besser? Früher war Anderlecht ein jüdischer Bezirk von Brüssel. Es war das geheime Zentrum von Brüssel, wegen des Clubs und wegen der Cafés und Läden. Jetzt ist es ein muslimischer Bezirk, die Juden sind fort, und keiner, den ich kenne, käme auf die Idee, hierherzukommen und in ein Café zu gehen, schon gar nicht mit einer Frau, die dürfte ein Café bei den Moslemsgar nicht erst betreten.
Du kennst doch Gerrit Beers, von der Spurensicherung? Er ist jetzt nach Anderlecht gezogen, er sagt, die Wohnungen sind dort billiger, es ist alles viel mehr easy-going, un er ist Raucher. Hier schert sich keiner um das Rauchverbot. Er bekommt einen erstklassigen Kaffee und die Männer mit ihren Wasserpfeifen kümern sich nicht darum, wenn er sich dazu eine Zigarette anzündet.
Wie in Molenbeek.
Ja. Die Zeiten ändern sich. Bald gibt der Club das Stadion hier auf und zieht in das neue König-Baoudouin-Stadion. Dann wird der Club noch Anderlecht heißen, aber nicht mehr in Anderlecht spielen. Und du wirst sagen, früher war alles besser. Und heute beschwerst du dich, weil Anderlecht nicht mehr so ist wie vor zwanzig Jahren.
Ja, so schlecht waren sie heute nicht. 2:1 gegen Leuven, das war schon okay.
Das Projekt zur Erstellung eines neuen Nationalstadion in Brüssel ist inzwischen eingestellt, der Club bleibt somit bis auf weiteres in Anderlecht beheimatet, ein Stadionneubauprojekt ist nämlich im Stadteil geplant.
(Aus: Robert Menasse: Die Hauptstadt. Suhrkamp 2017)
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Vielen Dank für die Morgenlektüre, werter Herr Briger.
Kultur gleich zum Jahresanfang und schon am frühen Morgen – 2022 wird sehr gut werden, das spüre ich ganz fest! Ich danke Ihnen und wünsche alles Gute.
sehr schön, vielen Dank und guten Morgen.
Ich mag Brüssel. Sehr Schöne, Herr Briger.
Sehr schöne Mittagslektüre, BIP lässt grüssen.
Aber ich hätte da noch was für Sie, Herr gavagai, die musikalische Liebeserklärung zu Brüssel, oder Brussel oder Bruxelles.
Oh, vielen Dank für die Aufmerksamkeit, Frau ManU97!