Bilder des Jahres 2017

Fotografen erzählen die Geschichte hinter ihrem Bild.

«Das Telefon klingelte um etwa halb vier Uhr früh. «Was ist passiert?», fragte ich, denn der Bildredaktor ruft zu dieser Zeit nur an, wenn es sich um Breaking-News handelt. «Kein Terror», antwortete er. Da war ich erleichtert. Er informierte mich darüber, dass in West-London ein Wohnhochhaus in Brand stand. Also habe ich Kameras, Handy und Laptop eingepackt und bin ins Auto gesprungen. Als ich um vier ankam, war es immer noch dunkel. Ich war schockiert. Da müssen noch viele Menschen in den Flammen gefangen sein, schliesslich brennt es schon seit ein Uhr. Ich habe dem Bildredaktor gleich einige Bilder direkt ab der Kamera geschickt. Nicht die besten, aber wichtig war in dem Moment, dass die Agentur Bilder rausgeben konnte. Ich fürchtete, der Turm könnte jeden Moment in sich zusammenfallen, er brannte schon drei Stunden, es wäre daher keine gute Idee, in die Nähe des Turms zu gehen. Ich ging auf den Westway, eine erhöhte Strasse, die aufgrund des Brandes für den Verkehr gesperrt war. Es war unheimlich ruhig, es waren nur knisternde Explosionen vom brennenden Turm und dumpfe Sirenen der Einsatzkräfte zu hören. Überall fiel Asche nieder. Ich machte viele Bilder des Gebäudes an einem Morgen, der ohne den Brand wunderschön gewesen wäre.» Brand im Grenfell-Turm in London (14. Juni 2017). Fotograf: Toby Melville (Reuters).

«Ich habe dieses Bild gegenüber dem Trump Tower in New York wenige Tage vor Trumps Vereidigung gemacht. Es war Samstag und nicht so viel los und um 15 Uhr waren die meisten Journalisten, die auf Proteste oder hochrangige Besucher warteten, wieder gegangen. Ich wartete noch auf einen Protestmarsch, der von Harlem her kommen sollte. Gerade, als die Sonne unterging, trafen die etwa vierzig Demonstranten ein. Fast sofort ist mir diese Frau aufgefallen, ich dachte mir, sie ist wunderschön, und ich sah den Schnee in ihren Haaren, der nicht schmolz. Das war die perfekte Metapher, denn die Rechts-aussen-Politiker nannten die liberalen «Schneeflocken», weil sie sie für schwach halten und schnell beleidigt sind. Mir gefiel der Schwarz-Weiss-Kontrast und der Kontrast zwischen ihrer Kraft und der Zartheit der Flocken. Ich habe sie gefragt, ob ich ein Porträt machen dürfe. Ich positionierte sie vor den dunklen Hintergrund einer Baustelle und nutzte das warmglühende Licht aus dem Schaufenster eines Juweliers. So entstand beinahe eine Studiosituation nur mit vorhandenem Licht. Wir hatten nicht viel Zeit, da uns der Juwelier anschrie und aufforderte zu gehen. Nach zwei Minuten war alles vorbei und sie schloss sich wieder dem Protestzug an. Ich habe sie nach ihrem Namen gefragt und ihr später die Bilder geschickt. Sie meinte nur: ‹Nach dem 6-Meilen-Marsch war mein Afro ein Winter-Wonderland›.» Black-Lives-Matter-Protest vor dem Trump Tower (14. Januar 2017). Fotografin: Stephanie Keith (Reuters). 

«Ich hatte Glück mit diesem Bild. Ich war zusammen mit Thomas Mukoya, dem Cheffotografen für Ostafrika, unterwegs, um Oppositionsproteste zu fotografieren. Ich fuhr auf dem Motorrad vor einem Konvoi, der trotz eines Verbots auf der Hauptstrasse von Nairobi demonstrieren wollte. Plötzlich hörte ich das Krachen von Tränengasgranaten, die von der Polizei abgefeuert wurden. Ich stoppte, um mir meine Gasmaske anzuziehen, und bemerkte, dass eine Granate in einem Auto gelandet war. Ein Mann lehnte aus dem Fenster und probierte verzweifelt rauszukommen. Der Gasnebel war so dick, dass er nichts sehen konnte. Ich machte einige Fotos, während ich hinrannte, um ihm zu helfen. Ich habe den Mann nicht erkannt, aber mein Vorgesetzter sagte mir später, dass es Caleb Amisi Luyai von der Oppositionspartei MP war.» Der kenianische Oppositionspolitiker Caleb Amisi Luyai in seinem Auto, das in Nairobi von einer Tränengasgranate getroffen wurde. (13. Oktober 2017) Fotograf: Baz Ratner (Reuters). 

«Ich wurde früh am Morgen über den Absturz beim Manas-Flughafen informiert. Ich fuhr sofort hin, aber die Polizei hatte das Gebiet für Autos grossräumig abgesperrt. Also musste ich die letzten zwei Kilometer zu Fuss gehen. Die Temperatur war 22 Grad unter null. Meine Hauptsorge war allerdings der Nebel. Bei Nebel ist es schwer zu fokussieren und die Bilder haben keinen Kontrast. Ich fand ein Loch in der Polizeiabsperrung und kam so zum Katastrophengebiet, wo die Feuerwehr und die Ermittler am Arbeiten waren. So war ich nah genug, dass der Nebel kein Problem mehr war. Das Heck des Flugzeugs lag auf den Überresten von Backsteinhäusern. Ich fotografierte mit einem Weitwinkelobjektiv und kontrollierte die Schärfe nach jedem Bild. Dann schickte ich die Bilder an die Agentur.» Flugzeugtrümmer nach dem Absturz eines Cargoflugzeugs bei Bishkek, Kirgistan (16. Januar 2017). Fotograf: Wladimir Pirgow (Reuters). 

«Die Proteste während des G-20-Gipfels in Hamburg hielten uns Fotografen während dreier Tage auf Trab. Die deutsche Regierung hatte extreme Massnahmen gegen die Demonstrationen ergriffen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren waren auch bewaffnete Polizisten im Einsatz. Am letzten Abend des Gipfels schien alles ruhig. Die Reuters-Fotografen beschlossen zusammen in der Roten Flora, dem Hauptquartier der linken Demonstranten, Pizza essen zu gehen. Alles war friedlich, keine Gewalt, keine Proteste. Auf einmal sah ich etwas und wies meine Kollegen darauf hin: Wasserwerfer waren im Anmarsch. Meine Kollegen dachten, ich mache Witze. Ich legte Pizza und Bier beiseite, packte meine Kameras und rannte hinaus in die Richtung der Wasserwerfer, die bereits begannen zu spritzten. In Deutschland werden die Wasserwerfer oft von Räumungsfahrzeugen begleitet, die mit grossen Pflügen ausgerüstet sind. Eines dieser Fahrzeuge war von einem einsamen Demonstranten gestoppt worden. Er klammerte sich an der Schaufel fest, achtete allerdings auch darauf, seine Bierflasche nicht zu verlieren. Er liess sich auch vom Wasserwerfer nicht abschütteln. Der Fahrer hinter der kugelsicheren Scheibe schien sich seines Anhängsels bewusst zu sein und lachte. Der Demonstrant wurde von der Menschenmenge angefeuert und klammerte sich fest, bis er eine grosse Menge Pfefferspray abbekam, die auch mich traf, also ging ich zurück zu meiner Pizza und dem Bier.» Ein Mann blockiert während der G-20-Ausschreitungen ein Polizeifahrzeug (8. Juli 2017). Fotograf: Kai Pfaffenbach (Reuters). 

«Ich war dabei, die Kämpfe in einem Museum zu fotografieren, als wir eine Drohne vom IS über uns entdeckten. Sofort warfen wir uns auf die Erde aus Angst vor einer Attacke. Dabei schnitt ich mir in die Hand, also gingen wir zurück zum Auto, um sie zu behandeln. Dort angekommen, sahen wir irakische Soldaten, die Raketen auf Ziele abfeuerten, die sich ausserhalb unseres Sichtfelds befanden, also begann ich wieder zu fotografieren. Für mich ist das ein starkes Bild, das die rohe Gewalt des Krieges ausdrückt. Kriege zu fotografieren, ist eine eigene Welt, immer hundert Prozent Gefahr und das Internet, um Bilder zu schicken, ist schlecht, wenn nicht inexistent.» Irakische Soldaten feuern eine Rakete gegen IS-Kämpfer in Mosul. (11. März 2017) Fotograf: Thaier al Sudani (Reuters). 

«An einem Freitag haben die muslimischen Ältesten zum «Tag des Zorns» aufgerufen, um gegen die jüngsten israelischen Sicherheitsmassnahmen um die heiligen Stätten in Jerusalem zu protestieren. Ich wurde in Jerusalem geboren und fotografiere hier seit 17 Jahren für Reuters. Ich wusste, dass ich auf dem Ras al-Amud den besten Blickwinkel auf das Geschehen haben würde, weil man von dort die eingemauerte Altstadt mit der Al-Aqsa-Moschee und der goldene Kuppel des Felsendoms überblicken kann. Als ich dort eingetroffen war, hörte ich einen israelischen Polizisten den Befehl erteilen, die Menge auseinanderzutreiben, sobald das Freitagsgebet zu Ende sei. Sekunden später knallte es und die muslimischen Betenden rannten los. Es ist schwer, den Ton der eingesetzten Schockgranaten zu beschreiben. Der Knall ist so laut, dass man meint, die ganze Gegend müsse verwüstet sein. Ich machte 20 Bilder einer israelischen Tränengasgranate, die in die Menge gefeuert wurde. Das Licht der Explosion erleuchtete die Szenerie so, dass die Farben unecht schienen. Viele der Männer bückten sich instinktiv als Reaktion auf den Knall. Ich schickte das Bild gleich der Agentur, weil ich das Gefühl hatte, damit die Geschichte zu erzählen, die sich abspielte. Ich hatte das Gefühl, das Bild des Tages gemacht zu haben.» Palästinenser fliehen vor Tränengasgranaten, die von den israelischen Sicherheitskräften ausserhalb von Jerusalem abgefeuert wurden. (21. Juli 2017) Fotograf Ammar Awad (Reuters). 

«Der Auftrag war, einfach die Vereidigung vom Washington-Monument aus zu fotografieren. Damit es keine Missverständnisse gab, habe ich der Agentur nur Bilder geschickt, die ich während Trumps Auftritt, als das Maximum an Zuschauern da war, gemacht habe. Sofort war auf Twitter zu lesen, dass die Bilder früher am Tag gemacht worden seien oder dass Zuschauer wegretuschiert worden seien. Bei seinem ersten Auftritt sagte der neue Pressesprecher Sean Spicer: ‹Die Bilder sind absichtlich in einem Winkel fotografiert worden, der den enormen Anhang des Präsidenten klein aussehen lässt. Auch wurde der Publikumsbereich zum ersten Mal bis ganz hinten eingezäunt, darum hatte sich die National Mall nicht so schnell gefüllt wie in anderen Jahren.› Das stimmt nicht. Es war eine neue Erfahrung, dass die Echtheit eines derart aufrichtigen Bildes hinterfragt wurde. Nach der Pressekonferenz war das Bild überall zu sehen. Später wurde ein Bild veröffentlicht, das von einem viel tieferen Punkt aus fotografiert worden war, was den Effekt hatte, dass es nach mehr Leuten aussah. Das löste eine zweite «Lügner!»-Welle auf Twitter aus. Ich ignorierte die Anschuldigungen und postete das Bild noch mal und schrieb drunter ‹Eine Frage der Perspektive›.» Zuschauer an Donald Tumps Vereidigung zum 45. Präsidenten der USA in Washington D.C. (20. Januar 2017) Fotograf Lucas Jackson (Reuters). 

«Ich habe dieses Bild von Rettungskräften, Soldaten und Freiwilligen, die nach dem grossen Erdbeben vom 20. September versuchten, Überlebende aus den Trümmern zu bergen, in Mexiko-Stadt gemacht. Die Stimmung war sehr emotional, schliesslich waren alle selber geschockt vom Erdbeben und doch wollten alle verzweifelt Überlebende finden. Leute räumten Trümmer zur Seite, bedienten die Bagger, signalisierten den anderen, still zu sein, um eventuelle Stimmen von Verschütteten zu hören, brachten Essen und Wasser. Im Chaos schien ein System zu herrschen. Ich erreichte diesen Ort per Zufall. Ich bin einfach losgegangen und konnte alle Polizei- und Militärsperren passieren. Als ich dieses Bild aufnahm, hoffte ich, dass sie jemanden lebend bergen konnten. Meine Aufgabe als Fotograf ist es, die Geschehnisse zu dokumentieren, und ich habe das Gefühl, dieses Bild zeigt den Einsatz, die Hoffnung, die Trauer und den Schmerz der Menschen nach einer solchen Naturkatastrophe. Als sich das Erdbeben ereignete, war ich hin- und hergerissen. Einerseits wollte ich Bilder machen, auf der anderen Seite wollte ich zu meiner Frau und Tochter. Ich verband beides, indem ich auf dem Weg zur Schule meiner Tochter fotografierte. Es war das pure Chaos; zerstörte Gebäude, verlassene Autos, geschockte und verletzte Menschen überall. Endlich erreichte ich die Schule und fand dort meine Frau und Tochter.» Rettungskräfte und Soldaten nach einem Erdbeben in Mexiko-Stadt (20. September 2017) Fotograf: Carlos Jasso (Reuters). 

Sonnenfinsternis (21. August 2017). Fotograf: Jim Urquhart. «Beinahe ein ganzes Jahr gab es unter Fotografen eine Aufregung und Diskussionen, was wohl der beste Ort sei, um die Sonnenfinsternis zu fotografieren, die über den USA zu sehen sein sollte. Es wurde immer klarer, dass es fast unmögliche sein würde, einen Winkel zu kriegen, in dem man auch ein Gefühl für den Raum bekommen würde, da die Sonne hoch im Himmel stehen würde. Als ich von einem Alaska-Airlines-Flug hörte, der Wissenschaftler und die Presse über das Meer flog, um so eine gute Sicht auf das Naturereignis zu haben, wusste ich, dass das meine Chance war. Die Schwierigkeit war, dass nur wenig Platz zur Verfügung stand und die Sonne nur 103 Sekunden verdunkelt sein würde. Als wir im Flugzeug waren, musste ich mir zuerst einen neuen Platz organisieren, da ein Flügel in meinem Sichtfeld war. Es hatte sich gelohnt. Aus dem Flugzeug schien die Sonne etwa halb so hoch wie von jedem Punkt der Erde aus. Ich konnte die Finsternis beinahe so fotografieren, wie wenn ich im All wäre, nur feine Wolken definieren einen Horizont. In diesem Moment, im Schatten des Mondes, weit über den Wolken und unter dem dunkeln Himmel, wusste ich, dass das eine einzigartige Umgebung war, um ein solches Ereignis zu sehen.» Sonnenfinsternis (21. August 2017). Fotograf: Jim Urquhart (Reuters). 

Ein Kommentar zu «Bilder des Jahres 2017»

  • Moore sagt:

    Tolles Bild: Black-Lives-Matter-Protest vor dem Trump Tower (14. Januar 2017). Fotografin: Stephanie Keith (Reuters). 
    Gute Metapher. Congrats.

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