Erkennen sie sich noch?

So muss es sein, wenn man im Spiegel einem Fremden begegnet: Der Berner Fotograf Rob Lewis hat Menschen mit Demenz porträtiert.

Rudolf Stutzmann, 97

Wer bin ich? Man kennt die Frage vom «heiteren Berufe­raten» bei Robert Lembke, aber dort war sie ein Showvergnügen, ein Gesellschaftsspiel vor dem Fernsehpublikum. Die Leute hier sind mit sich allein, und vielleicht wissen sie die Antwort selbst nicht. Am 21. September ist Welt-Alzheimer-Tag. In der Schweiz leiden ungefähr 120’000 Menschen an dieser oder einer anderen Form von Demenz. Zwei Dutzend von ihnen hat der Fotograf Rob Lewis porträtiert, und zwar im Alters- und Pflegezentrum Schönberg in Bern. Lewis hat dafür einen Einwegspiegel benutzt, der den Blick von einer Seite her durchlässt und ihn auf der anderen spiegelt. Man sieht auf diesen Bildern also den Moment, in dem die Leute sich selber in die Augen blicken.

Rosmarie Gerber, 83

Aber «sich selber» – das ist schon zu viel gesagt. Im fortgeschrittenen Stadium der Demenz kann der Tag kommen, an dem sich die Betroffenen nicht mehr wiedererkennen: Der zunehmende Verlust der Gedächtnisleistung bedroht auch die Erinnerung an die eigene Person. Spiegel, die dem Ich ansonsten die routinierte Gewissheit geben, dass es noch ist, was es ist – sie werden zur Hürde im Alltag. Zum Loch. Oft entfernt man sie dann aus den Zimmern. Was sich also an Argwohn zeigt in den porträtierten Gesichtern, an Ratlosigkeit oder auch Neugier, das ist nicht etwa die Reaktion auf den Fotografen, den man schemenhaft in jeder Aufnahme erkennt. Vielmehr ist es die Reaktion auf das Gesicht, das im Spiegel auftaucht. So überlistet Rob Lewis sein Genre: Seine Bilder sehen aus wie Porträts – sind aber keine, wie man sie kennt.

Fred Venner, 84

Cecilia Scafuri, 86

Ruth-Elisabeth Paêrli, 81

Finn Olufsen, 86

Lotty Hug, 65

Edith Hostettler, 75

Maria Guenin, 94

Gertrud-Margrit Gerber, 92

Anny Fuhrer, 79

Hans-Ulrich Bieri, 78

 

Allerdings gibt es Einwegspiegel auch in Verhörszenen im Kino. Ein Versuch mit Unwissenden also? Lewis betont, er sei während anderthalb Jahren im Zentrum Schönberg ein- und ausgegangen, und sein Projekt sei nur dank dem Vertrauen möglich geworden, das in dieser langen Zeit gewachsen sei. Zudem seien die Porträtierten stets von Pflegepersonal begleitet gewesen, und sie hätten sich in einem vertrauten Umfeld befunden. Tatsächlich gehören diese Aufnahmen auch zum Leitbild des Pflegezentrums, sie sind dort öffentlich ausgestellt. Und mit ihnen die vielen Fragen, die sie so eindringlich stellen. Was geht diesen Leuten durch den Kopf? Wie muss sich das anfühlen, wenn im Spiegel ein Fremder erscheint? Und jeden Tag ein anderer Fremder? Kann man sich ein Leben vorstellen, in dem es keine Erinnerung mehr gibt? Und was bleibt einem, wenn man sich selbst abhandenkommt? Empathie, so sagen es manche Experten, mache bei der Demenz den guten Arzt aus.

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Informationen zum Fotografen Rob Lewis finden Sie auf seiner Website

Der Bildband „Ich bin. Bin ich?“ ist im Verlag Stämpfli erschienen.
64 Seiten, etwa 39 Franken.

8 Kommentare zu «Erkennen sie sich noch?»

  • Enkelin einer dementen Grossmutter sagt:

    Ich würde unter keinen Umständen wollen, dass meine Mutter oder meine Grossmutter so dargestellt werden. Dass man den Fotografen auf jedem Bild sehen muss, ist eine Beleidigung für mein ästhetisches Empfinden, es wirkt machohaft.
    Wenn sie das auf der Station aufhängen würden, wäre es so als würde man auf einer Krebsstation Bilder der Kranken im Endstadion aufhängen.

  • Eveline Krummen sagt:

    ich bin erschüttert, dass Fotografien publiziert werden von Menschen, die nicht mehr erfassen, was geschieht, und nicht ermessen können, was es bedeutet, wenn ihre Bilder publiziert und online gestellt werden. Auf einigen Bildern sehe ich Angst. Auf andern erscheinen die Porträtierten wenig gepflegt. Wenn diese Menschen sich früher fotografieren ließen, dann haben sie sich selbst gut dargestellt. Jetzt veröffentlicht man ein Bild mit ihrem Namen und Wohnort, das sie zeigt, wie sie die Welt verlieren. Diese Menschen haben oft ein unendliches Vertrauen in ihre Mitmenschen, das einzige, was ihnen bleibt. Sie sind sehr dankbar für alles. Dieses Vertrauen haben Sie missbraucht. Der Tagesanzeiger soll offen legen, wer die Publikationserlaubnis gegeben hat und die Bilder sofort von Netz nehmen.

  • Bettina Wegenast sagt:

    Was für ein ganz besonders unempathisches, herzloses und voyeuristisches Projekt! Ausserdem bestätigt es nur alle Ängste und (Vor-) Urteile, die man der Krankheit ohenhin gegenüber schon hat.; erzählt also auch nichts Neues.
    Sind das tatsächlich die letzten Bilder, die man der Öffentlichkeit von seinen Angehörigen / zur Pflege Anvertrauten zeigen will? Wie würden sich wohl die Fotografierten dazu äussern, wenn man sie fragen würde? Was gäbe es für einen Aufschrei, wenn man wildfremden Leuten einen Einwegspiegel ins Badezimmer montieren würde, sie morgens nach dem Aufwachen fotografieren und sie dann ohne ihr Wissen in die Zeitung bringen würde? Ich verstehe nicht, wie man das zulassen kann.

  • Brigit sagt:

    Ein massiver Übergriff, sowohl durch den Fotografen als auch durch das Pflegeheim.

  • Martina Albertin sagt:

    Im Hier und Jetzt – im wahrsten Sinne des Wortes. Könnte das dazu passen ?

  • Gerber André sagt:

    Grossartig!

  • Jessas Neiau sagt:

    Jemand, der sich nicht erinnern kann und sich angeblich jeden tag auf’s Neue nicht mehr erkennt – woher weiss so jemand, was ein Spiegel ist und was er darin sieht?

    Und wenn die Leute dement (vermutlich urteilsunfähig sind) – wer hat dann dem Fotografen die Herstellung und Veröffentlichung seiner Fotografien erlaubt?

  • Helena Meier sagt:

    Tolle Umsetzung, Rob. Und ein passender Text, Herr di Falco. Vielen Dank. Gerne mehr davon.

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