Jeder Tag ein Tag der offenen Tür
Zu Besuch bei Warhol und Beuys, Burden und Lüthi: Als junger Fotograf aus Bern ist Bernhard Giger in der Kunstwelt der Siebzigerjahre weit herumgekommen.
Andy Warhol (1928–1987), Factory Union Square, New York, 1974
Chris Burden (1946–2015), vor seinem Atelier, Ocean Front, Venice/Kalifornien, 1973
Nein, es war nicht alles nur grandios. Der Besuch bei Otto Muehl zum Beispiel, jenem Guru der Aktionskunst, der Leute mit Exkrementen überschüttete, um die bürgerliche Gesellschaft zu überwinden: Bernhard Giger fotografierte ihn 1973 in seiner Kommune in Wien. Und es war «beklemmend», wie er berichtet – «die jungen Frauen, fast noch Mädchen, kahlköpfig, uniform, Gespielinnen des Meisters, die für den Fotografen ihre absurden Rituale zwischen Verlangen und Entzweien inszenierten». Aus der Kunst wurde eine Sekte. Und ein Fall für die Justiz.
Hermann Nitsch (*1938), Diessen am Ammersee, 1973
Jean Tinguely (1925–1991, rechts) zu Besuch bei Bernhard Luginbühl (1929–2011, links), Mötschwil, 1971
Sonst aber, diese Siebzigerjahre: keine schlechte Zeit. «Die Welt wurde neu erfunden», so Giger – zwar «nicht das erste und nicht das letzte Mal», aber er habe das Gefühl gehabt, Teil davon zu sein. Zur Szene gehörte er auf jeden Fall. Später Filmer, «Bund»- und BZ-Journalist, mittlerweile Leiter des Berner Kornhausforums, war Giger damals Anfang zwanzig und gelernter Fotograf. Es war eine Zeit des Aufbruchs; die Kunst sprengte die Museen, um sich neue Formen und neue Räume zu erobern. Und es war die Zeit von Andy Warhol, der 1974 schon weltberühmt war und trotzdem eine halbe Stunde übrig hatte, um in seiner New Yorker Factory für Giger Posen zu probieren; die des Zeitungslesers beispielsweise. Offene Türen auch bei Claes Oldenburg, Sam Francis und Urs Lüthi. Oder bei Chris Burden, jenem jungen Kalifornier, der sich mit seinen Performances an Leib und Leben gefährdete. Und sich nun, vor seinem Atelier am Strand von Venice, so unsicher und zerbrechlich zeigte.
Urs Lüthi (*1947), Zürich 1974
Claes Oldenburg (*1929), New York, 1974
Sam Francis (1923–1994), Santa Monica/Kalifornien, 1973
Giger war als Porträtist mit Kuratoren und Kritikern unterwegs, die sich mit den Künstlern trafen. So ist er weit herumgekommen. So weit, dass sich seine Porträts – vor zwei Jahren erstmals ausgestellt in der Berner Galerie von Bernhard Bischoff – nun zusammensetzen zu einem ganzen Whoʼs who jener Ära, in der viel von dem anfing, was mittlerweile klassisch ist. Heldenbeschwörung ist der Band mit Gigers Fotos trotzdem keine: So nahe kommt man Helden normalerweise nicht. Der Konzeptkünstler Bruce Nauman tollte während des Hausbesuchs mit seiner Tochter auf dem Fussboden herum; gut möglich, dass die Kunstwelt damals überhaupt zugänglicher war. Doch da war auch dieser junge Fotograf, der so offen, so frei von Schablonen und Stilhubereien auf die Leute zuging. Und erst damit die Vertrautheit einfangen konnte, die von heute aus gesehen nicht nur das Charakteristische jener Jahre ist. Sondern auch das Unwiederbringliche.

Bernhard Giger: Begegnung im Atelier/Studio Encounter. Verlag Stämpfli, Bern 2016. Deutsch/Englisch. 128 Seiten, etwa 48 Franken.
Ausstellung: Galerie Kornfeld, Bern, bis 23. Dezember. Gespräch mit Bernhard Giger: 6. Dezember, 18.30 Uhr.
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