Zerkratzte Identitäten
Was macht das Dasein als Asylsuchender mit einem Menschen? Ein junger Brite hat darauf eine ganz eigene Antwort gefunden.
Was, wenn du plötzlich irgendwo strandest? Weil es da, wo du herkommst, einfach nicht mehr ging? Noch während seiner Ausbildung zum Reportagefotografen begann der 24-jährige Brite Sam Ivin, Asylheime aufzusuchen. Erst aus Neugier, dann, weil aus den Fremden, die er dort traf, Freunde wurden. Freunde, die von überall her kamen, ganz unterschiedliche Geschichten zu erzählen hatten – und die doch eines verband: das Warten. Und Hoffen. Darauf, dass man sie arbeiten lässt. Dass man sie Teil der Welt um sie herum werden lässt. Dass die Ungewissheit, was aus einem wird, endlich aufhört. Denn das Warten sei, das hörte Ivin immer wieder, als würde dir ein Teil deiner Selbst weggeschnitten. Zermürbend. Lähmend. Demütigend.
Wie etwas abbilden, das sich nur auf der Seele zeigt? Ivin griff zur Kamera – und dann zum Schleifpapier. Und rieb so lange über die fotografierten Gesichter, bis das, was die vergangenen Wochen, Monate, Jahre mit den Menschen dahinter gemacht hatten, sichtbar wurde.
Ohne Namen, dafür fein säuberlich nach ihrem Herkunftsland sortiert, hat Ivin seine Bilder nun publiziert. Von A wie Afghanistan bis Z wie Zimbabwe blätternd, sucht man vergeblich den Blick dieser «Lingering Ghosts», dieser «wartenden Geister». Und hört doch, was einer von ihnen stellvertretend für sie alle ganz hinten im Buch fordert: «I just want them to treat me like a human, you know.»

Sam Ivin: Lingering Ghosts. Fabrica 2016. 70 Seiten, ca. 30 Franken.
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