Wo Afrika in Sicht ist
Vier Schweizer sind dem Reiz des andalusischen Tarifa verfallen und bieten Walbeobachtungen, Reiten am Strand und Unterkünfte in der Natur an.
Das andalusische Tarifa wird umspült von Mittelmeer und Atlantik und liegt genau da, wo Europa und Afrika sich zu berühren scheinen. Hier ist die Costa de la Luz am schönsten: hügelig, unverbaut, umgeben von Naturparks. Vier Schweizer sind dem Reiz der Gegend verfallen. Christina Ward betreibt einen Pferdestall am Strand, Katharina Heyer bringt den Touristen Delphine und Wale näher, Katrin Mérida Brechtbühl geht mit ihren Gästen wandern und die Surf-Pioniere Daniela und Marc Stämpfli führen Interessierte auf den lokalen Markt.
Christina Ward
In der Nachbarschaft zur knackig besetzten Costa del Sol sind die Leere und Weite hier für viele Touristen überraschend
Christina Ward reitet auf ihrem schwarzen Andalusierhengst Zenit vom Stall zum Meer – eine Minute über den Strand, schon steht sie vor den Wellen. Weit weg sieht man vier Jogger am naturbelassenen Sandstrand und zwei Stand-up-Paddler, sonst niemanden. „In der Nachbarschaft zur knackig besetzten Costa del Sol ist die Leere und Weite hier für viele Urlauber überraschend“, sagt Christina, 45, aus Baden bei Zürich. „Hier kann man endlos galoppieren, ohne dass eine Straße kommt.“ Die Landstraße Carretera Nacional 340 liegt vom breiten Sandstrand aus noch hinter einem dichten Wald aus Pinien. Mit ihren breiten Kronen sehen sie aus, als hätte die Natur Sonnenschirme für die Strandbesucher aufgespannt. Darüber wölbt sich das hügelige Hinterland mit Pinien- und Korkeichenwäldern. „Man hat unendlich viel Platz hier und man darf überall reiten, jeder Bauer freut sich, wenn man vorbeikommt.“
Zenit will los galoppieren. „Er hat einen wahnsinnig starken Freiheitsdrang, das verbindet uns“, sagt Christina. Als Studentin der Tiermedizin an der Universität Zürich kam sie für ein Austauschjahr nach Spanien und entdeckte Tarifas Strände und grüne Hügel. Damals, vor 22 Jahren, hat sie das Land an der Playa de los Lances gemietet und mit Hilfe von Freunden den Stall aufgebaut. „Pferde sind in Andalusien Männersache, also das genaue Gegenteil vom Norden“, erzählt sie. „Der Anfang war nicht leicht, aber ich war jung und habe mich mit Charme durchgefuchst.“ Christina war auch die erste Frau, die an einem Pferderennen in Tarifa teilgenommen hat. „Die Andalusier sind stolz und ich musste lernen: Man kann die Leute nicht auf Druck verändern, aber auf sanfte Art ganz fein führen – so wie ich es mit meinen Pferden mache.“
Daniela und Marc Stämpfli
«Der Markt hier ist noch ursprünglich und urig», sagt Marc «und es gibt alles hier, denn Algeciras hat den größten Personenverkehrshafen Europas.» Esther Michel
Fische auf dem Markt von Algeciras, der Nachbarstadt von Tarifa. Daniela und Marc Stämpfli nehmen die Gäste ihrer Unterkünfte gerne mit hierher.
Tarifa südlichster Ort in Spanien Portraits von Schweizer, die sich in Tarifa zu Hause fühlen DANIELA UND MARC STÄMPFLI gehen mit uns auf den MARKT in Algeciras Oliven MAI 2016 Esther Michel
Marc Stämpfli beweist Mut und lässt sich von Pacco (109 Jahre alt) im ältesten Coiffeur-Geschäft von Algeciras die Haare schneiden.
Die Schnecken kriechen den Griff der Schütte hoch. Die Verkäuferin, tätowiert und mit schweren Goldketten und Ohrringen behängt, muss die aus der Kiste in alle Richtungen fliehenden kleinen Dünenschnecken immer wieder zusammenschieben. Eine kriecht ihr schon die Rüschenschürze hoch. Wir sind auf dem Markt von Algeciras, der Nachbarstadt von Tarifa. Daniela und Marc Stämpfli nehmen die Gäste ihrer Unterkünfte gerne mit her. „Die Markthalle ist Art Déco-Stil, ihr Dach ist frei schwebend, das ist ganz selten“, sagt Marc, 56, aus Winterthur.
Seine Frau, die Bernerin Daniela, will zum Fischmarkt. „Hier bekommt man frischen Thunfisch aus Barbate, westlich von Tarifa. Den ganzen Rest kaufen die Japaner weg.“ In den Auslagen liegen großflossige Knurrhähne, plattförmige Seeteufel und rote „urtas“, die es nur hier in der Meerenge gibt. Daniela kauft zwei Seezungen, 30 Zentimeter lang, 1870 Gramm für 20 Euro. Draußen bietet ein alter Marokkaner mit Bart Plastikblumen feil, in Käfigen zwitschern grüne Vögel und von den Obstständen duften die Pfirsiche so stark wie Extrait de Parfum. „Der Markt hier ist noch ursprünglich und urig“, sagt Marc, „und es gibt alles hier, denn Algeciras hat den grössten Personenverkehrshafen Europas.“
Auf dem Weg zurück nach Tarifa fahren wir über grüne Hügel, immer wieder kann man auf die Meerenge und bis nach Afrika gucken. „Die Natur hier ist genial“, sagt Daniela, „alles ist geschützt“. Weil hier ein Mikroklima herrscht, hat es selten mehr als 30 Grad. Biken ist sehr groß und der Berg Betijuelo ist bekannt fürs Bouldern. „Wenn sie nebenan an der Costa del Sol in der Sonne braten, kann man bei uns immer irgendeinen Sport treiben: Sind Wellen da, kann man wellenreiten, bei Windstille stehpaddeln und bei Wind surfen.“
Weil Natur und Sport hier groß geschrieben sind, genau wie in der Schweiz, wohnen hier auch viele Schweizer. „In Tarifa mit seinen 18 000 Einwohnern sind es mehr als 60“, erzählt Marc. Die Stämpflis kamen in den achtziger Jahren und machten eine Surfschule auf, die sie 25 Jahre lang führten, die erste am Strand von Valdevaqueros, dem bekanntesten Surfspot in ganz Europa. „Wir waren Pioniere“, sagt Marc. Die Schule haben sie vor kurzem verkauft, jetzt vermieten sie Unterkünfte an Urlauber. „Spanien wird immer beliebter bei Touristen, es boomt richtig“, sagt Marc. Aber die Costa de la Luz, die bei Tarifa anfängt, ist noch relativ einsam. „Es ist umständlicher hierher zu kommen, man braucht ein Auto.“ Bisher haben auch die starken Winde hier, die Naturschutzgebiete und die Finanzkrise aber verhindert, dass große Hotels in der Stadt oder den Stränden gebaut wurden. „Ich habe immer gesagt: Wenn ein McDonald’s aufmacht in Tarifa, dann ziehe ich weg“, sagt Marc. „Jetzt haben sie zum Glück ein Burger King gebaut!“
Katharina Heyer
Katharina Heyer steht an Deck der „Firmm Spirit“ und schaut nach winzigen Anzeichen der Meeressäuger, einem Kräuseln, einem Dräuen, einer Fontäne irgendwo in der Weite.
Die Zürcherin zeigt Touristen den Artenreichtum in der Meerenge, die Grindwale, die Streifendelfine, Großen Tümmler, die Orkas, Pottwale und Finnwale.
„Pottwale bleiben 10, 15 Minuten oben, um sich mit Sauerstoff vollzutanken“, erklärt Katharina. Dann erhebt sich mit meerjungfräulicher Anmut die riesige Fluke, die Schwanzflosse, ganz langsam, um dann sanft abzutauchen.
Zwischen Europa und Afrika findet ein Leben statt, von dem lange Zeit niemand außer ein paar Fischern etwas ahnte. Bis Katharina Heyer kam. Es ist ein sonniger Vormittag, die Berge Afrikas und Europas liegen da wie schlafende Brüder, der Jbel Musa ist verschleiert mit Wolke. Es ist friedlich, wenig Wind heute in der Straße von Gibraltar. Katharina Heyer steht an Deck der „Firmm Spirit“ und schaut nach winzigen Anzeichen der Meeressäuger, einem Kräuseln, einem Dräuen, einer Fontäne irgendwo in der Weite. Mittelmeer und Atlantik fließen hier ineinander, nur 14 Kilometer trennen Tarifa, die südlichste Stadt Europas, vom afrikanischen Kontinent. Als die Zürcherin Katharina Heyer, Modedesignerin und Hobbytaucherin, gehört hatte, dass es Wale geben soll bei Tarifa, fragte sie bei der Universität Basel nach. „Zu meinem größten Erstaunen fand ich heraus, dass noch nie jemand die großen Meerestiere in der Straße von Gibraltar erforscht hat!“, sagt sie. Also spürte sie sie selbst auf, die quirligen Delfine und die gemächlichen Wale.
„Das konnten die andalusischen Machos nicht ertragen“, erzählt sie beim Ausflug in die Meerenge, „die ersten Jahre waren furchtbar hart.“ Eine Frau, und nicht einmal eine Meeresbiologin! Eine Ausländerin und noch dazu aus einem Land, das nicht das klitzekleinste Bisschen Küste hat! Aber Katharina, marineblaue Jacke, rosa Lippenstift und kurzes schwarzes Haar, hat vor fast 20 Jahren den Sprung ins Haifischbecken gewagt. Sie gründete eine Stiftung zur Erforschung des Lebens in der Meerenge und begann, Bootsfahrten anzubieten. Seitdem zeigt sie Touristen den Artenreichtum in der Meerenge, die Grindwale, die Streifendelfine, Großen Tümmler, die Orkas, Pottwale und Finnwale. Jeden Tag, an dem das Wetter es ihr erlaubt, steht sie auf dem Boot. Zehn Stunden täglich, mit 73 Jahren.
„Auf elf Uhr ein Pottwal!“, ruft sie. Die Bootsname hält an, die Passagiere laufen nach backbord. Dort treibt er wie ein Floß. „Ah, I werd verrückt, meine erschte Wal!“, quiekt hysterisch eine blonde Karlsruherin, die offensichtlich nichts von seiner gravitätischen Ruhe zu erspüren vermochte. „Pottwale bleiben 10, 15 Minuten oben, um sich mit Sauerstoff vollzutanken“, erklärt Katharina. Dann erhebt sich mit meerjungfräulicher Anmut die riesige Fluke, die Schwanzflosse, ganz langsam, um dann sanft abzutauchen. „Dass die Wale hier sind, hat seinen Grund in der besonderen Situation der Straße von Gibraltar“, sagt Katharina. „Weil der Meeresspiegel des Mittelmeers sinkt, strömt Atlantikwasser in die Meerenge. Es kommt dann zu einem Rückstrom mit nährstoffreichem Plankton, das von kleinen Fischen gefressen wird.“ Sie stehen am Beginn einer kompletten Nahrungskette, bis hin zu den großen Meeressäugern.
An Land werde sie immer „la suiza“ bleiben, die Schweizerin, egal wie lange sie schon da sei, sagt sie. „Aber die Meerenge ist ein magischer Ort für mich. Ich bekomme meine ganze Kraft bei den Tieren da draußen. Wenn uns eine Mutter ihre jungen neugierigen Grindwale zeigt, da quillt mir das Herz fast über vor Dankbarkeit, dass ich das erleben darf.“ Große Tümmler eilen herbei und begleiten das Boot wie eine schützende Eskorte, manche haben Junge dabei, einer springt sogar. „Herzig“, entweicht es Robert aus Buttwil im Aargau, einem Informatiker mit weißem Bart, „guat“, lacht er immer wieder, „guat“. „Mir ist schon bewusst, dass jedes Boot, das raus fährt, eigentlich eines zu viel ist“, sagt Katharina. „Aber wir müssen doch die Sensibilität der Menschen auch an Lande erhöhen, dass die Tiere schützenswert sind. Dieser Ort ist mir doch nicht umsonst gezeigt worden, ich muss doch etwas daraus machen.“
Katrin Mérida Brechtbühl
Katrin Mérida Brechtbühl aus Bern geht mit Touristen wandern oder fährt mit ihnen Kajak an der Küste entlang, seit 2005 vermietet sie Holzhütten und in einem acht Hektar großen Lorbeerwald.
„Bis vor 12 Jahren war hier alles weit und breit Militärsperrgebiet – deshalb ist es so verlassen und so wild“, erzählt sie. „Es war eine gute Idee, dass sie es in ein Naturschutzgebiet verwandelt haben.“ Kein Mensch, nur Kühe, Esel und Schafe, alle frei, im Parque Natural del Estrecho.
Die Kühe können bis zum nächsten Kontinent schauen. Sie grasen direkt vor dem Meer, auf der anderen Seite liegt der Jbel Musa in Marokko da wie ein versteinerter Dinosaurierrücken. Der Wind lässt ihre Glocken bimmeln und ihre weichen Lippen suchen zwischen den harten Pflanzen nach rot blühendem Klee. Lila Disteln, Feigenkakteen – die meisten Pflanzen hier sind zäh und schwer gerüstet gegen Salzluft und die starken Winde. Katrin Mérida Brechtbühl, 49, aus Bern, geht auf fünf frei herumlaufende Esel zu, einen kriegt sie zu fassen und streichelt ihn.
„Bis vor 12 Jahren war hier alles weit und breit Militärsperrgebiet – deshalb ist es so verlassen und so wild“, erzählt sie. „Es war eine gute Idee, dass sie es in ein Naturschutzgebiet verwandelt haben.“ Kein Mensch, nur Kühe, Esel und Schafe, alle frei, im Parque Natural del Estrecho. Katrin geht hier mit Touristen wandern oder fährt mit ihnen Kajak an der Küste entlang, seit 2005 vermietet sie Holzhütten und in einem acht Hektar großen Lorbeerwald. „Die meisten sind überrascht, dass es am Meer in Andalusien auch leer sein kann. Spanien ist gerade total gefragt, aber hierher kommen meist Urlauber, die nicht der großen Herde folgen“, sagt sie. „Kommt, ich zeige euch den schönsten Ort, den ich kenne.“. Ein Stückchen weiter, unter einem Turm aus dem 16. Jahrhundert, liegt die kleine Playa del Guadalmesí. Ein großer bizarr geformter Felsen ragt ins Meer, angefressen von Meerwasser und Salzluft. Mal hat der Stein die Struktur von Waben, mal von Luffa, mal von Morcheln. Jemand hat große Steine ins Wasser gelegt, die als Treppe dienen. Hinter dem Felsen, vom Strand nicht zu sehen, wird der Stein flach wie eine Terrasse. Sie steht eine Handbreit unter Wasser und man hat das Gefühl, man läuft über das Meer genau auf Afrika zu. Katrin setzt sich in eine Kuhle im Fels, die das Meer ausgespült hat: „Das ist mein Lesesessel und das“, sie zeigt auf die Felsterrasse, „ist der Spielplatz meiner Kinder. Hier suchen sie Krebse, einmal haben sie sogar mit bloßen Händen einen Tintenfisch herausgezogen!“
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