Am Rande des Abgrundes
Klaus Pichler und Clemens Marschall haben dokumentiert, wie Wien lacht und trinkt.
Es sind Orte, an denen sich die Gefallenen einfinden, um ihre Feste zu feiern. Die Lokale tragen Namen wie Stehbeisl Helga, Likörstube, Don Waldo, Schweden Espresso, Salzamt, Bierschnaberl, Las Palmas, Café Lambada oder Weinstube Stumpergasse. Hier sitzen eigenbrötlerische Menschen unter nikotingebeizten Decken, eingeklemmt zwischen Euphorie und Elend, trinken Bier und Billigschnaps. Manchmal werden Triumphe begossen, meist jedoch Tragödien weggespült.
Jahrelang sind der Fotograf Klaus Pichler und der Autor Clemens Marschall in Wien durch diese Gegenwelt gestreift, um sie in Worten und Bildern festzuhalten. Während Marschall die Gastwirte aus ihrem chaotischen Alltag erzählen lässt, richtet Pichler seine Kamera auf die Stammgäste in diesen Wohnzimmern fernab der eigenen vier Wände: Menschen inmitten von abgewetztem Mobiliar aus längst vergangenen Jahrzehnten, vom Leben gezeichnet und von den Getränken zermürbt. Ihre Augen sind gerötet, die Gesichter ramponiert, aber wer genau hinschaut, entdeckt hinter den Sorgenfalten und den Säufernasen jede Menge Charakter.
Denn es sind echte, unkaputtbare Typen, die diese rustikalen Rückzugsgebiete bevölkern, aus der Zeit gefallene, selbstbewusst schrullige Figuren, deren Verrücktheit sie vor dem Durchdrehen bewahrt hat. Was sie immer wieder in die schummrigen Kaschemmen treibt, gibt einer der Wirte schlüssig zu Protokoll: «Saufen, reden, blödeln, das Herz ausschütten.» Mit ihrem Buch «Golden Days Before They End» – ausgestattet mit Adressverzeichnis und Dialekt-Glossar – haben Pichler und Marschall eine bewegende, beklemmend schöne Hommage an ein allmählich wegdämmerndes kleines Universum am Rande des öffentlichen Raums geschaffen. Ein Sammlung vielschichtiger Eindrücke, in der das Überschaubare und dessen Verschwinden verewigt bleiben. Über sämtliche Sperrstunden hinweg.

Klaus Pichler/Clemens Marschall: Golden Days Before They End, Edition Patrick Frey, Zürich 2016, 250 Seiten, 52 Franken.
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