10 Quadratmeter müssen genügen
Am Rand der Stadt, im Schatten des Fortschritts: Delphine Schacher zeigt ein Genfer Barackendorf und seine Bewohner.
Thomas hat einen Rasierapparat und sonst nicht sehr viel, obwohl er als Schulbusfahrer arbeitet. Aber eine Wut hat er nicht. «Ich komme mit ziemlich wenig aus und schlage mich durch», sagt er, «so einfach ist das.» So einfach? «So ist die Gesellschaft eben.» Die Gesellschaft jedenfalls, wie sie sich den Leuten zeigt, die hier draussen wohnen, in diesen Baracken aus Holz. Sie stehen im Schatten der Cité du Lignon, des grössten Wohnbaus Europas am Westrand von Genf. Das Versprechen sozialen Fortschritts: Hier bekam es eine kolossale Gestalt aus Beton.
Die Baracken derweil, die die Unterkünfte der italienischen Saisonniers waren, welche die Cité vor fünf Jahrzehnten bauten, sind heute – kaum beachtet und etwas versteckt – die Kehrseite jenes Fortschrittsversprechens. Und genau das sind eigentlich auch Thomas und die anderen Bewohner, die die Fotografin Delphine Schacher porträtiert hat: Restexistenzen, Randerscheinungen. Manche haben ihre Stelle verloren, manche ihre Familie, ihr Land oder sonst einen Halt und die Aussicht auf ein bürgerlicheres Dasein. In den Baracken gibt es pro Person nur ein Zimmer, zehn Quadratmeter klein.
«Bois des frères» heisst die Fotoserie, mit der Delphine Schacher hinter die Kulissen der gesellschaftlichen Normalität blickt; in allem gebotenen Ernst und ohne falsche Dramatik, aber mit einem bemerkenswerten Sinn dafür, wie das Licht auf diesen Ort fällt. Und welche Würde es den kargen Umständen verleiht. Entstanden ist die Serie (neben zwei weiteren, von Simone Haug und Annick Ramp) im Rahmen des Nationalen Forschungsschwerpunkts «Lives», wo man sich wissenschaftlich mit der Frage beschäftigt, wie die Menschen heute mit Krisen in ihren Biografien umgehen. Und zu sehen sind alle drei Serien an den 20. Bieler Fototagen. Thema dieser Jubiläumsausgabe: die «(Re-)Konstruktion der Realität» durch die Fotografie. Eine Frage, die Schacher souverän beantwortet: Sie macht eine Wirklichkeit sichtbar, von der es sonst keine Bilder gibt.

Die Bieler Fototage dauern bis 22. Mai. www.bielerfototage.ch
Publikation des Nationalen Forschungsschwerpunkts «Lives» mit allen drei Serien: Downs and Ups. Snoeck Publishers, Gent 2016.
4 Kommentare zu «10 Quadratmeter müssen genügen»
aber Geld zum Rauchen….
Glauben Sie wirklich, dass die armen Seelen so viel rauchen, wie eine Wohnnung kostet?
Restexistenzen, was ist denn das für ein Unwort?
Ja, fand ich auch sehr befremdlich.