Die Ruhe vor dem nächsten Sturm
Im Februar 2014 wurden die friedlichen Proteste in Kiew blutig niedergeschlagen. Doch der Kampf um die ukrainische Identität geht weiter, wie die Begegnungen von Fotograf und Journalist Patrick Rohr zeigen.
Der Kämpfer
Michail, 37, war einer der Hunderttausenden, die von November 2013 bis Februar 2014 auf dem Maidan im Zentrum Kiews gegen die Politik des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch protestierten. Ausschlaggebend für den Massenaufstand war, dass Janukowitsch ein Assoziierungsabkommen mit der EU – entgegen seiner ursprünglichen Zusage – nicht mehr unterzeichnen wollte.
Nachdem unbekannte Schützen im Februar 2014 etwa hundert Protestierende erschossen hatten und die Russen fast zeitgleich auf der Krim und später in der Ostukraine einmarschierten, war für Michail klar, dass er mit Waffen für die Unabhängigkeit der Ukraine kämpfen wollte. Er schloss sich einem Freiwilligenbataillon an. Als drei seiner Kameraden im Kampf gegen die Separatisten im Osten umgekommen waren, flüchtete er nach Kiew, wo er vorübergehend in einem Auffangzentrum für inländische Flüchtlinge lebt. «Ich stehe auf einer Todesliste der Separatisten», sagt er. Neben sich auf dem Bett, wie eine Trophäe, eine Separatistenfahne, die er erobert hat. Michail will weiterkämpfen, obwohl in seinem Land schon viele mit dem Leben dafür bezahlt haben.
Die Hinterbliebenen
Am 20. Februar 2014 wurde Wolodymyr von einem unbekannten Heckenschützen erschossen. Stolz zeigt sein 21-jähriger Sohn Wolodymyr jr. die Tattoos, die er sich nach dem Tod seines Vaters hat stechen lassen: japanische Kampfsymbole. «Sie erinnern mich jeden Tag daran, dass ich den Kampf meines Vaters weiterführen muss.» Der Schild, den der Familienvater aus der Abdeckung einer alten Waschmaschine gebaut und mit den ukrainischen Landesfarben blau und gelb bemalt hatte, half gegen die Kugeln nichts. Es hatte aber auch niemand mit dem Einsatz von Schusswaffen gerechnet.
Die Helferin
Irina war auch auf dem Maidan. Sie kam von der Krim nach Kiew. Drei Monate lang lebte sie in einem Zelt am Rand des grossen Platzes und versorgte da Verwundete und Entkräftete. Als sie gegen Ende des Aufstandes hörte, dass Russland die Krim eingenommen hatte, wusste sie, dass sie nicht mehr nach Hause konnte. «Als Aufständische müsste ich 15 Jahre ins Gefängnis, wenn ich nach Hause ginge», sagt sie. Ihre Eltern und ihre Schwester leben immer noch auf der Krim. Sie selber wohnt inzwischen in einem speziellen Auffanglager für Flüchtlinge: Nachdem Präsident Janukowitsch mit seiner Entourage geflüchtet war, vernahm Irina, dass auf seinem immensen Anwesen etwas ausserhalb von Kiew Angestelltenhäuser leer stehen würden. Irina sorgte dafür, dass dort Kriegsflüchtlinge aus dem Osten einziehen konnten. Heute leben etwa 200 Flüchtlinge dort, Irina ist eine von ihnen.
Der Wortführer
Der 26-jährige Informatiker Oleg führte zuerst einen Aufstand in seiner Heimatstadt Donezk an, bevor er auf dem Maidan in Kiew als einer der Wortführer mitdemonstrierte. Zurück in seine Heimat ging er wegen des Krieges nicht mehr. Zusammen mit zwei Freunden lebt er in einer anonymen Hochhaussiedlung am Rand von Kiew. Die Löhne in der Ukraine sind tief, im Schnitt 200 Euro pro Monat. Grosse Sprünge liegen da nicht drin. Nicht zuletzt deshalb träumen viele junge Menschen wie Oleg von einer Öffnung des Landes nach Westen.
Der Herrscher
Doch es gibt auch andere, sehr einflussreiche Kräfte, die überhaupt kein Interesse an einer liberalen und fortschrittlichen Ukraine haben. Wladika Pawel gehört zu ihnen. Der Vorsteher des berühmten Klosters Lawra, das mitten in Kiew in einem Wald hoch über dem Fluss Dnjepr thront, ist die Nummer drei der russisch-orthodoxen Kirche. Er ist froh, ein Kirchenführer im Osten zu sein, der Westen ist für ihn des Teufels. «Statt von Vater und Mutter redet man da von Partner 1 und 2, und Homosexuelle dürfen heiraten. Das ist Sodom und Gomorrha!», sagt er.
Die Ausgegrenzten
Solange Leute wie Wladika einen grossen Einfluss auf die ukrainische Gesellschaft haben, wird sich auch das Leben dieser beiden Männer nicht so schnell verändern. Doch Rewas, 24, und Wanja, 21, seit zwei Jahren ein Paar, kämpfen für ihre Liebe. Für Wanja, der noch niemandem in seinem Umfeld von seiner Homosexualität erzählt hat, ist der Schritt vor die Kamera ein grosser. Doch er wagt ihn, weil er überzeugt ist, dass nur so sich irgendwann etwas verändern wird. Er ist überzeugt, dass «Rewas und ich 2020 heiraten und Kinder haben werden.» Im Juni letzten Jahres fand zum zweiten Mal eine Gay Pride in Kiew statt. Etwa 350 Leute nahmen teil, durch die Polizei völlig abgesondert. Trotzdem gelang es dem Rechten Sektor, die Parade zu stören und mehrere Menschen zu verprügeln.
Die Rechtsextremen
Der Rechte Sektor ist eine lose Bewegung, die auf immer mehr Gebieten an Einfluss gewinnt. In der Politik sind die Nationalisten auf dem Vormarsch, aber auch im Militär. Auf einem verlassenen Industriegelände in Kiew befindet sich das Trainingscamp der Azov-Brigade, einer ultranationalistischen Truppe von Freiwilligen, die die Armee im Krieg gegen die Separatisten unterstützt. Menschenrechtsorganisationen bezichtigen die Azov-Soldaten schwerster Verbrechen, und trotzdem melden sich Hunderte junger Männer – und vereinzelt auch Frauen – zum Dienst. Die Popularität der Truppe dürfte auch mit dem verhältnismässig hohen Monatslohn von 400 Euro zusammenhängen, aber vermutlich ist sie vor allem auch Zeichen eines neu erwachten Nationalismus, wie die Aussagen des Azov-Sprechers Viktor, 21, zeigen.
Die Angeschossenen
Auch Ihor, 33 (Bild), und Serhij, 26, lassen sich von ihren Verletzungen nicht von ihrem Ziel abbringen – einer neuen Ukraine. Die beiden Freunde demonstrierten im Februar 2014 auf dem Maidan, als sie beide in ihre Beine geschossen wurden. Bis heute ist nicht klar, wer die Schützen auf dem Maidan waren. Die neue Regierung unter Präsident Petro Poroschenko hat zwar Aufklärung versprochen, doch getan hat sich auch nach zwei Jahren noch nichts. Ihor und Serhij, die beide ausserhalb Kiews wohnen, reisen einmal im Monat zwei Stunden zu einem Gericht in Kiew – in der Hoffnung, endlich zu ihrem Recht zu kommen. Doch jedes Mal erleben sie die gleiche Enttäuschung: «Ausreden, Ausflüchte, niemand will etwas wissen.»

Patrick Rohr (geb. 1968) hatte als Zeitungs- und Radiojournalist gearbeitet, bevor er 1992 als Redaktor und Moderator verschiedener Sendungen («Schweiz aktuell», «Arena», «Quer») zum Schweizer Fernsehen kam. 2007 machte er sich mit einer Agentur für Kommunikationsberatung und Medienproduktionen selbstständig. In den letzten vier Jahren absolvierte er in Amsterdam zudem eine Ausbildung zum Porträt- und Dokumentarfotografen. Wir zeigen hier einen Ausschnitt seiner Abschlussarbeit «Bloody Serious» über Ukrainer, die für eine Veränderung in ihrem Land auch ihr Leben opfern würden. Die ganze Geschichte sehen Sie hier:
Patrick Rohr spricht im Interview mit Tagesanzeiger/Newsnet über seine Arbeit
7 Kommentare zu «Die Ruhe vor dem nächsten Sturm»
Der bärtige Patriarch hatte ja wohl auch keine Ahnung, dass er von einem verheirateten Homosexuellen portraitiert wurde. Isn’t it ironic?
Teilweise homoerotische Bilder, interessanter Beitrag. Danke!
Das war sehr interessant zu lesen bzw. die Gespräche anzuhören. Es ist ein lokaler Konflikt in einer grossen Geschichte. Wichtig, dass man diesen und die Menschen dort nicht vergisst. Es wird wohl ein langer Weg sein und beide Seiten müssen Zugeständnisse machen. Auch hier bezahlt wohl die Zivilbevölkerung mitunter einen Preis dafür, dass die arrogante westliche Politik die Russen so herablassend behandelte.
Vielen herzlichen Dank – ein bisschen spät, sorry! – für das schöne Kompliment! Ich habe mich sehr gefreut.
Der Link ist falsch geschrieben & verlinkt. Es ist .ch und nicht .com.
Eindrucksvolle Portraits und Videoaufnahmen!
Da da steht, dass im 2014 „friedliche“ Demonstrationen unterdrückt wurden, lese ich den Rest gar nicht!
Schade, Sie könnten was lernen um zu verstehen …