An der Front gegen den IS

Der Berner Fotojournalist Alex Kühni beschreibt einen «ganz normalen» Tag an der Frontlinie gegen den selbst ernannten Islamischen Staat.

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Meine Bodyguards für die Fahrt an die Front. Die Peshmerga-Kämpfer Idrees und Saleh.

Es ist frühmorgens in Arbil, der Hauptstadt der kurdischen Autonomieregion im Norden des Irak. Ich habe mich mit dem Übersetzer Samad vor meinem Hotel verabredet, um am heutigen Tag an der Frontlinie über Gefechte zwischen kurdischen Peshmerga-Soldaten und IS-Kämpfern zu berichten. Es ist einfacher, uns vor dem Hotel zu verabreden. Denn um mich mit ihm in der Hotellobby zu treffen, müsste er zuerst an den Sprengstoffhunden, schwer bewaffneten privaten Sicherheitsleuten und Gepäckscannern vorbei und wir würden zu viel Zeit verlieren.

Samad ist 26 Jahre alt, irakischer Kurde und ein professioneller Pressebetreuer. Unter Journalisten werden diese Pressebetreuer «Fixer» genannt. Sie verschaffen Zutritt zu schwer zugänglichen Orten, organisieren Papiere und sind mit ihrer Erfahrung und ihren Kontakten eine Art Lebensversicherung in umkämpften Gebieten. Für den Nachmittag haben wir uns den Frontabschnitt vor Mosul vorgenommen. Mosul ist die irakische IS-Hauptstadt, sie ist nur rund 80 km von Arbil entfernt. Die Gegend ist umkämpft und gilt daher als gefährlich, Samad hat deshalb einen seiner Brüder und seinen Onkel mitgebracht, sie beide sind Peshmerga-Kämpfer. Allein durch ihre Präsenz verringert sich die Gefahr einer Entführung oder eines Überfalls.

«Guten Morgen, mein Freund, hast du gut geschlafen im Irak?», begrüsst mich Samad, und ich erwidere den Gruss und frage, ob alles abgeklärt sei für die rund einstündige Fahrt an die Front. Mit «In sha‘ Allah» (so Gott will) wird meine Frage quittiert, und wir verladen Schutzwesten, Helme und meine Kameraausrüstung in seinem Auto.

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Rauch über der nordirakischen Stadt Machmur, sie wurde soeben von drei Raketen des IS getroffen.

Der erste Frontabschnitt, den wir heute abfahren, verläuft rund 60 km südöstlich von Arbil nahe der Stadt Machmur. Während der Fahrt, vorbei an Bauruinen und ausgebrannten Autos, geht über der Wüste langsam die Sonne auf. Der August ist der heisseste Monat im Nordirak, und schnell klettert das Thermometer von den nächtlichen rund 26 Grad auf über 45 Grad. Als wir uns Machmur nähern, bricht in unserer Fahrgemeinschaft plötzlich Hektik aus. Samad hat eine SMS-Nachricht von einem seiner Kontakte erhalten. Die Stadt ist soeben mit Raketen vom IS angegriffen worden. Wir sehen bereits dicke schwarze Rauchschwaden aufsteigen. Bald darauf passiert uns ein schrill heulendes Krankenauto, und Samad meint: «Lass uns sehen, was passiert ist, vielleicht können wir ja helfen.»

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Ein durch eine IS-Rakete zerstörtes Haus in Machmur.

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Peshmerga-General Arsalan in seinem Hauptquartier nahe der Front.

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Der «Fixer» Samad (3. v. l.) mit einer Gruppe Peshmerga-Kämpfer nahe Machmur.

Machmur ist heute wie ausgestorben. Kaum etwas erinnert an die Zeit vor dem Aufstand des IS im August 2014, als rund 18’000 Kurden und Araber die Stadt bewohnten. Hier geblieben ist nur, wem die finanziellen Mittel für ein Umsiedeln fehlen oder wer über keine Familienangehörigen ausserhalb Machmurs verfügt. Schnell haben wir ein Haus erreicht, welches direkt von einer Rakete getroffen wurde. Ein Teil des Hauses ist eingefallen, eine junge Frau kann nur noch tot aus den Trümmern geborgen werden, zwei Kinder wurden verletzt. Weinende Frauen, ein durch die Explosion zersiebtes Auto und Blutlachen am Boden unterstreichen die martialische Szene.

Schnell wird eine Gruppe junger Männer auf mich und meine Kamera aufmerksam. Sie schliesst sich zusammen, und es entbrennt eine hitzige Diskussion zwischen meinem Übersetzer und der aufgebrachten Gruppe. Samad, Idrees und Saleh können die Situation aber schnell wieder entspannen. Dass in der Vergangenheit Anwohner nach Raketeneinschlägen oft innert Minuten Fotos und Videos auf soziale Netzwerke luden und somit dem IS die Bestätigung für einen «Treffer» lieferten, war der Grund für die Aufregung. Dies führte dazu, dass kurz darauf weitere Raketen auf dieselben Koordinaten geflogen kamen.

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Eine Ablösung von Peshmerga-Kämpfern auf dem Weg zu einem Gebiet an der äussersten Frontlinie. Dieses Gebiet wird vom IS kontrolliert.

Samads Handy klingelt, es ist General Arsalan, Kommandant der Peshmerga-Kämpfer am Frontabschnitt nahe Machmur. Samad hat ein Treffen für ein Interview mit ihm organisiert, er mahnt zur Eile, da bald Luftangriffe durch die US-Luftwaffe auf die vermuteten Raketenabschussrampen folgen würden. Der General will uns an die äusserste Frontlinie mitnehmen, damit wir die bevorstehende Bombardierung von einem unter diesen Umständen entsprechend sicheren Schützengraben aus beobachten können.

Wir beeilen uns und werden vom General in seinem Hauptquartier empfangen. Samad übersetzt mir seine Begrüssung: «Ich nehme dich mit an die Front, aber lass uns zuerst zusammen einen Tee trinken.» Nach einem starken Schwarztee und einem kurzen Kennenlernen geht es los. Ich steige mit vier Peshmerga-Kämpfern auf die Ladefläche eines Pick-ups. Wir fahren zu einem bis an den Horizont reichenden, mit Blechunterständen gespickten Schützengraben, der sich wie eine groteske Narbe durch die gelbliche Wüste frisst.

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Der Bombeneinschlag auf eine Stellung des IS bei Machmur im Norden des Irak.

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General Arsalan an der Frontlinie zum Gebiet des Islamischen Staates. Er verlor durch eine explodierende Granate drei Finger an seiner rechten Hand.

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Ein kurdischer Peshmerga-Kämpfer verhüllt sein Gesicht, um sich vor der glühenden Hitze zu schützen.

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Kurdische Scharfschützen suchen Ziele in einem nahe gelegenen, vom IS kontrollierten Dorf.

General Arsalan begleitet mich in einen Unterstand, aus dem wir aus einem Kilometer Entfernung die Umrisse eines Dorfes erkennen können. «Von dort aus haben sie geschossen, die Bastarde!», lässt der General mich wissen. Kaum hat er den Satz beendet, verwandelt sich das Dorf am Horizont zuerst in einen Lichtblitz und anschliessend in eine riesige, sich rasch vergrössernde Rauchsäule. Mit einer kurzen Verzögerung folgt der donnernde Schall des Bombeneinschlags.

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Kurdische Peshmerga-Kämpfer hören den IS-Funk ab und warten auf ihr Essen.

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Eine Autobahnbrücke, die der IS auf dem Rückzug sprengte, um den kurdischen Vormarsch zu verlangsamen.

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Die Überreste des Granatenangriffs auf die kurdischen Stellungen kurz vor Mosul.

Inzwischen ist es Mittag, und die Temperatur steigt auf schwer zu ertragende 48 Grad. Wir machen uns auf den Weg zurück in General Arsalans Hauptquartier, welches zwei Kilometer von der Frontlinie zurückversetzt in einem ausgebombten Dorf liegt. Das Mittagsmenü ist einfach gehalten: Fladenbrot, Reis und wenig gekochtes Lammfleisch. Niemand spricht während des Essens. Der spartanisch ausgestattete Essraum wird mit aufgeregten Funkmeldungen beschallt. Die Stimmen, die sich aus einem kleinen Funkgerät in der Mitte des Raums überschlagen, gehören Kämpfern des Islamischen Staates. General Arsalan und seine Männer hören gebannt den teilweise panischen Funkmeldungen zu. «Da, jetzt kommt es, sie geben die Verluste durch den Luftschlag durch!», ruft mir Samad zu. Er übersetzt mir den Funkspruch, welcher meldet, dass acht IS-Kämpfer durch die Bombardierung getötet worden seien.

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Ein Peshmerga-Panzerkommandant an der Frontlinie zwischen Mosul und Arbil.

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Kurdische Panzer in einer Stellung kurz vor der irakischen IS-Hauptstadt Mosul.

Nach dem Mittagessen verlassen mein Übersetzer Samad, die zwei Bodyguards und ich den Frontabschnitt bei Machmur in Richtung Mosul. Mosul ist die drittgrösste Stadt im Irak. Anfang Juni 2014 startete der Islamische Staat, der schon zu Beginn des Jahres Teile der umliegenden Provinz unter seine Kontrolle gebracht hatte, einen Angriff auf die Stadt. Schnell hatten die Kämpfer des IS Mosul vollständig unter ihrer Kontrolle. Die Stadt ist wegen der nahe gelegenen Ölraffinerien und des Staudamms von hoher wirtschaftlicher und somit auch strategischer Bedeutung. Im Februar 2015 begann der IS mit der Befestigung der Stadt, um auf eine eventuelle Rückeroberung vorbereitet zu sein. Mithilfe der amerikanischen Luftunterstützung ist Mosul bis heute von drei Seiten durch kurdische Streitkräfte belagert. Unser Ziel ist ein Frontabschnitt, der 18 Kilometer östlich vor Mosul verläuft.

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Peshmerga-Kämpfer auf einem alten russischen Panzer. Am Horizont ein Versteck von IS-Milizen, über welchem nach einem Beschuss Rauch aufsteigt.

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Sonnenuntergang über der kurdischen Stadt Arbil im Norden des Irak. Die einst florierende Metropole wirkt gelähmt durch den Krieg gegen den IS.

Kurz vor der irakischen IS-Hauptstadt Mosul haben die kurdischen Pershmerga-Streitkräfte nebst den Elitesoldaten auch schweres Geschütz stationiert. Wir besuchen eine Gruppe Kämpfer, die zwei T-54-Panzer russischer Bauart betreiben. Die 50-jährigen Kriegsmaschinen sind in einem erstaunlich gut gewarteten Zustand. Die massiven Geschütze zeigen in Richtung Mosul, als ob sie den Bestimmungsort ihrer nächsten Prüfung bereits kennen würden. Langsam beginnt es einzudämmern, und Samad wird nervös. Er meint: «Wir sollten vor Sonnenuntergang zurück in Arbil sein, hier draussen wird es nachts zu gefährlich.»

In der Tat gehören die Nächte im Irak dem IS. Die Dunkelheit bietet einen gewissen Schutz vor Luftangriffen. Kämpfer können sich einfacher bewegen. Dörfer und Strassen, die an einem Tag als sicher gelten, können schnell über Nacht die Hand wechseln. Also machen wir uns auf den Weg zurück in die kurdische Hauptstadt Arbil. Kurz vor Sonnenuntergang sind wir in der einst florierenden Metropole. Durch den rasanten Bodengewinn des selbst ernannten Islamischen Staates im Sommer 2014 verharrt die Grossstadt sozusagen in einer wirtschaftlichen Schockstarre. Die meisten Investoren sind abgezogen und die Arbeitslosigkeit infolgedessen rasant angestiegen.

Auch Samad hat seine Arbeit bei einer ausländischen Erdölfirma verloren und sich notgedrungen als Übersetzer selbstständig gemacht. Ich bedanke mich für seine Arbeit, und wir verabreden uns für den nächsten Tag. «Einen schönen Abend und bis morgen, Samad», wünsche ich. Samad erwidert: «In sha‘ Allah.»

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Alex Kühni ist ein Berner Fotojournalist. Er bereiste 2015 zweimal den Norden Iraks, um über den Krieg gegen den Islamischen Staat zu berichten. In den letzten Jahren realisierte er verschiedene Fotoreportagen in Libanon, Gaza, der Ukraine, Tajikistan, Kambodscha und Nordkorea. Seine Reportagen wurden unter anderem in der Washington Post veröffentlicht. Neben seiner Arbeit als Fotograf arbeitet er Teilzeit an der Schule für Gestaltung Bern, an der er Fotografie und gestalterische Fächer unterrichtet. Weitere Fotos sind auf seiner Webseite zu finden: www.alexkuehni.com

6 Kommentare zu «An der Front gegen den IS»

  • pcsteiner sagt:

    Stimmt…super Bericht. Mich stört nur, dass vom „Islamischen Staat“ geschrieben wird. Diese Verbrecherbande repräsentiert kein Staat. Die korrekte Bezeichnung müsste wohl „Daesch“ heissen…

  • Doris Luong Ba-Meier sagt:

    Vielen Dank für diese interessante Reportage. Dank Ihnen und der Peshmerga-Kämpfern erhalten wir Einblick in diesen schrecklichen Krieg. Ein grosses Risiko sind Sie eingegangen. Bravo für Ihren Mut !

  • URS GRAF BANGKOK sagt:

    Alle Achtung vor diesem schweizer Journalist und Fotograf. Sonst hoert man immer nur von auslaendischen Berufs kollegen. Viel Erfolg ist ihm zu wuenschen.

  • Martin M. Hänni sagt:

    Guter Bericht und gute Fotos. Man kann sich den blutigen und opfervollen Krieg gegen den IS auch gut ohne Blut und schrecklich entstelle Kriegsleichen vorstellen.
    Ich hoffe für die Pesmerga-Kämpfer auf dem Bild, dass das Scharfschützenfoto gestellt ist, denn es ist absolut unprofessionell . Kein ausgebildeter Scharfschütze würde je so in Stellung gehen, ohne Deckung und händisch aufgestütztem Gewehr…und erst die stehenden Männer um ihn herum. Sie wären in grösster Lebensgefahr, wäre das ganze echt!

  • Hermann Eugster sagt:

    Grossartige Arbeit – das lebt und bebt! Bravo.

  • Philipp M. ZEMP sagt:

    Ein toller Bericht in Text und Bild eines unabhängigen und frei schaffenden Journalisten.

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