Die Abschaffung des weissen Todes
So rettet man ein Dorf: Kaspar Thalmann zeigt den Lawinenschutz in St. Antönien. So schön können die Taten von Ingenieuren sein. Und so schön unvernünftig.
Es handle sich, so beschwor der Bundesrat das Parlament, um ein «Problem, das an die Grundlagen unseres Staates greift». Ohne Gegenmassnahmen drohe die «Entvölkerung ganzer Talschaften, da diese praktisch unbewohnbar werden». Und weil die Leute dort selber nichts ausrichten könnten, brauche es jetzt die «tatkräftige Hilfe der Allgemeinheit».
Das war 1951. Der Winter hatte enorme Schneefälle gebracht; eine Reihe von Lawinen hatte 92 Menschenleben gekostet. Die Folge: eine der grössten Solidaritätsaktionen im Land. Und dann, mit Bundesgeld, eine der grössten Lawinenverbauungen, und zwar im bündnerischen St. Antönien. Die Frage, ob man das Dorf nicht besser umsiedeln würde, war schon bald wieder vom Tisch. Die Schweiz verstand sich als Land der Berge und Bergler. Man verteidigte die Heimat gegen die Natur.
So wurden 1953 bis 1977 fast 17 Kilometer Schutzbauten in die Hänge oberhalb St. Antöniens gepflanzt, bis vier Meter hohe Konstruktionen aus Beton und Stahl. Und den Ingenieuren diente jenes Haus als Büro, das heute der Feriensitz der Familie von Kaspar Thalmann ist. Architekt und Fotograf im zürcherischen Uster, hat er die Lawinenverbauungen im Lauf der letzten Jahre in Bilder gebannt. Er zeigt die langen Reihen von Stützen und Streben. Die Linien, die Serien, die Schönheit dieser Geometrien. Er zeigt aber auch, wie sehr sie in die Landschaft eingreifen. Sie verändern den Blick auf die Berge, und auch das machen die Fotos dieser Bauten klar: Wo sie sind, erscheinen die nackten Hänge nur noch wie Rampen, wie Rutschbahnen für den weissen Tod. So bannt die Technik die Gefahr, erinnert aber ständig an sie.
Das ist womöglich das Irrationale an vielen technischen Grosstaten in den Alpen, mit denen die Schweiz die Natur bezwungen hat. Und noch ein Paradox: Die Schutzbauten von St. Antönien sind mittlerweile selber zur Belastung geworden. 400 000 Franken kostet die Sanierung jährlich, und sie wird noch zwanzig Jahre dauern. Aber dass sich das Land diese Art von ökonomischer Unvernunft leistet – genau das hat bisher zu seiner Grösse gehört. Und zu seinem Selbstverständnis.

Kaspar Thalmann: Oder das Tal aufgeben.
Texte von Nadine Olonetzky, Stefan Hotz, Köbi Gantenbein.
Scheidegger & Spiess, Zürich 2015. 128 Seiten, 49 Abbildungen, 49 Franken.
Ein Kommentar zu «Die Abschaffung des weissen Todes»
Die lokalen Walser haben über die Jahrhunderte mit den Lawinen gelebt und ihre Gebäude entsprechend an jenen Stellen gebaut, welche lawingensicher waren (Try and Error). Es ist deshalb nicht mehr als ein schöner Gedanke, dass der Bundesrat mittem im Spannungsfeld des kalten Krieges Millionen in Lawinenverbauungen für einige wenige Bergler inverstiert um diese vor der „Natur“ zu schützen. Schon eher dürften hier wohl strategische Überlegungen mitgepielt haben. Die entsprechenden Lawinen-Bauten sind deshalb wohl eher unter dem Kapitel Schweizer-Bunkermentalität als unter selbstverständliche Bezwingung der Natur einzuteilen.