Blinde Passagiere

Fotograf Mike Brodie fuhr jahrelang mit Punks und Abenteurern auf Frachtwagen quer durch Amerika. Sein Bildband «A Period of Juvenile Prosperty» ist ein wilder Trip.

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Mike Brodies selbst verfasste Kurzbiografie in seinem eben erschienenen Fotobuch «A Period of Juvenile Prosperity» liest sich wie eine Bukowski-Geschichte. Er kam 1985 in Mesa, Arizona, zur Welt. Sein Vater war ein saufender Gauner und musste für neun Jahre in den Knast. Bei der Verhaftung schaute Brodie zu. Fünf Polizisten waren nötig, den Geruch des Tränengases hat er nie vergessen.

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Seine Mutter arbeitete hart, putzte alten Menschen den Hintern, schwor irgendwann dem Alkohol ab und liess sich taufen – zusammen mit ihrem Sohn. In der Highschool gewann Brodie BMX-Wettbewerbe und wurde beim Onanieren während des Unterrichts erwischt. Beim ersten Sex mit einer Punkerin brach das Lavabo ab, mit 14 tätowierte er sich die Hände. Er schmiss die Schule, dann den Job und hörte auf, an Gott zu glauben. Mit 17 fand er auf dem Hintersitz eines Autos eine Polaroidkamera. Er begann zu fotografieren, lebte mit Veganern und Untergrund-Rockbands in Portland, Florida und Philadelphia. Bei einem Fotowettbewerb gewann er 10’000 Dollar, die schickte er seiner Mutter.

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Als der Wirbelsturm Katrina New Orleans zerstörte, war er in der Stadt, doch Bilder machte er nicht. Brodie begann zu reisen. Zu Fuss, per Autostopp und vor allem auf Frachtzügen, als blinder Passagier zusammen mit anderen Aussteigern, Abenteurern, Obdachlosen und Freiheitssuchern. Kreuz und quer durch Amerika.

Auf über 50’000 Kilometern hat er dabei mehrere Tausend Fotos geschossen. Um mit seinen Reisegefährten in Kontakt zu bleiben, stellte er die Bilder ins Netz. Er wurde im Internet berühmt, aber das wollte er nicht. Er löschte seine Website, hörte auf zu fotografieren und wurde Diesel-Mechaniker. Schade, denn seine Sammlung gilt bereits als eines der eindrücklichsten Archive amerikanischer Reisefotografie. Renommierte Galerien zeigen seine Werke und das, obschon er sich selber nie als Fotografen bezeichnet hat. Gerne hätten wir den talentierten Mann interviewt, doch seine Agentin liess ausrichten, Herr Brodie sei gerade auf Reisen.

Dieser Artikel erschien am 4.4.2013 auf tagesanzeiger.ch

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