Wutbürger und Endzeitpropheten

Seit 1872 wird am Speakers‘ Corner erklärt, wie man die Welt rettet. Und warum sie demnächst untergeht. Philip Wolmuth hat die Prediger während 35 Jahren fotografiert.

Speakers' Corner 1993

Die Möglichkeiten, Dampf abzulassen, Verschwörungstheorien oder Erlösungsfantasien loszuwerden, sind heute fast unbegrenzt: Twitter, Facebook, Leserkommentare, ja das ganze Internet sind zumindest in den meisten Teilen der Welt ein Ort der freien Rede. Das war früher anders. Der Normalbürger konnte sich kaum direkt ans Volk oder an eine breitere Öffentlichkeit wenden. Das war Politikern, Monarchen und Geistlichen vorbehalten.

Simon, aka Dr Bulgaria, Speakers' Corner, London.

Am 27. Juni 1872 jedoch erklärte das britische Parlament eine Ecke im Londoner Hyde Park zum Speakers‘ Corner. Ohne Anmeldung durfte hier ab sofort jeder einen Vortrag zu einem beliebigen Thema halten, einziges Tabu: die königliche Familie.

Speakers Corner 1995 Argument.  Speakers' Corner, Hyde Park, London. Preacher.  Speakers' Corner, Hyde Park, London. The Catholic Evidence Guild.  Speakers' Corner, Hyde Park, London.

Obwohl auch schon historische Grössen wie Karl Marx, Lenin oder Georg Orwell an der Ecke in der Nähe des Marble Arch ihre Sicht der Dinge vorgetragen haben, bietet der Ort seit jeher vornehmlich skurrilen Persönlichkeiten eine Plattform. Religiöse Eiferer und Endzeitpropheten bilden ganz klar das Kernteam, eher selten schnappen sich auch Komödianten und Poeten eine Kiste oder eine Leiter und unterhalten die mehr oder weniger grossen Grüppchen Schaulustiger.

Martin Besserman.  Speakers' Corner, Hyde Park, London.

Fotograf Philip Wolmuth hat den Platz zwischen 1977 und 2012 immer wieder besucht und eindrückliche Aufnahmen von Weltverbesserern, Wutrednern und Streithähnen gemacht. In seinem soeben erschienenen Buch «Speakers‘ Corner» zeigt der Engländer die besten Aufnahmen des Ortes, den Angela Merkel bei ihrer ersten London-Reise nach der Wende besuchte und der als Symbol der Meinungsfreiheit für die Ostdeutsche eine ganz besondere Bedeutung gehabt haben soll.

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