Sie müssen draussen bleiben
Klaus Petrus geht der Frage nach, was es bedeutet auf der Gasse zu leben, wenn alle zuhause bleiben müssen.
400 sind es angeblich allein in der Stadt Bern, wie viele in der gesamten Schweiz, das weiss niemand so genau. Menschen ohne feste Bleibe, Abhängige, Sexarbeiterinnen, sie alle sind betroffen – weniger vom Virus, sagen sie, als von den Massnahmen, die der Bund im März 2020 verhängt hat. Manche können nicht daheim bleiben, auch wenn sie es möchten; denn sie haben kein Zuhause. Weil alles zu hat und niemand unterwegs ist, fehlt vielen der Puder, das Geld, die Freier.
M., 49, ohne Arbeit, obdachlos
«Ich komme aus Rumänien, doch frag nicht, wie lange ich schon unterwegs bin. Ich weiss es nicht. Ich weiss nur, ich bin müde, habe Schmerzen. Was soll ich erzählen? Meine Tage sehen immer gleich aus, ich gehe auf die Strasse, hocke mich hin, bettle, sehe die Menschen an mir vorbeihuschen und die Hunde auch. Ausser jetzt, da ist es leer, selbst am Bahnhof. Die Stunden werden noch länger. Nein, mit Drogen habe ich nichts am Hut, sie würden mich umbringen. Ich will leben, trotz allem.»
A., 40, seit 25 Jahren süchtig, ohne Arbeit
«Wenn du am Rand lebst, ist der Abgrund nicht weit. Natürlich will ich weg von den Drogen. Der Entzug ist das kleinste Problem, das schafft fast jeder. Was danach kommt, das ist Hölle. Auch wenn das Gift längst aus dem Körper ist, die Drogen bleiben im Kopf. Du musst dein ganzes Umfeld wechseln, umziehen, ein neues Leben beginnen? Nur, was für eins? Das ist nicht einfach, verstehst du? Mein erster LSD Trip ging durch die Decke, was für ein Flash! Also liess ich mir die chemische Formel von LSD auf meine Brust tätowieren. Seither bin ich dem Teufel persönlich zweimal begegnet. Und knapp davongekommen. Gottlob hab ich meinen Glauben.»
N., 36, seit 20 Jahren süchtig, ohne Arbeit, obdachlos
«Wenn du einmal weisst, wie das ist – dieses Flash im Kopf, dieses warme Gefühl überall in dir –, du wirst es nie wieder vergessen können. Und bist schneller wieder im Loch, als dir lieb ist, glaub mir, das macht zack, und du bist weg. Das Leben auf der Strasse ist hart, jetzt sowieso. Seit der Corona-Pandemie ist weniger Geld da, die Leute können nicht mehr betteln, die Frauen haben keine Freier, aber Drogen brauchen sie trotzdem. Der Stress nimmt zu. Du kannst niemandem trauen auf der Gasse, alle denken nur an sich, jeder will dich austricksen. Ich hab genug davon, das verdirbt den Charakter und zieht dich runter. Wenn Corona vorüber ist, mach ich den Entzug.»
L., 35, ein Kind, seit 10 Jahren süchtig, ohne Arbeit, obdachlos
«Ich stehe hier und bettle, ich brauche 25 Franken am Tag, die Leute bringen mir manchmal Essen, sie drücken mir eine Dose Bier in die Hand, ein paar Zigis. Es gibt Zeiten, da hoffe ich auf ein Wunder. Doch auch Wunder sind am andern Tag wieder verflogen. Heute Abend schlafe ich draussen, wo, das weiss ich noch nicht.»
N., 36, seit 10 Jahren süchtig, ohne Arbeit, obdachlos
«Liebe, Zuneigung, Zärtlichkeit, das alles kannte ich nicht. Meine Eltern waren süchtig, sie hatten andere Sorgen und nie Zeit für mich. Zum ersten Mal nahm ich Drogen mit 14, so richtig rutschte ich erst später rein. Natürlich ist es hart als Frau auf der Gasse, du musst dich in Acht nehmen. Prostituieren würde ich mich niemals, lieber bettle ich auf der Strasse. Jetzt, wegen Corona, ist es schwieriger, die Leute bleiben ja zu Hause, es fehlt mir permanent an Geld. Vor einigen Tagen musste ich meinen Hund weggeben, das war schlimm. Doch schlimmer noch war für ihn dieses Leben auf der Strasse. Eigentlich bin ich zuversichtlich: Ich bin erst Mitte dreissig, habe mein Leben noch vor mir. Oder?»
C., 46, zwei Kinder, seit 25 Jahren süchtig, ohne Arbeit, obdachlos
«Ich habe mein Leben gelebt, ich war mal oben, mal unten. Diese verfluchten Drogen, der Alkohol, der Strich, das setzt einem zu. Doch ich bin immer noch am Leben, still alive. Ich glaube fest an mich. Und dass alles einen tieferen Sinn hat. Und es am Ende vielleicht gut ist so, wie es ist.»
T., 28, seit 5 Jahren süchtig, ohne Arbeit
«Ich bin seit sieben Jahren in der Schweiz, hatte verschiedene Jobs, lebte mal hier, mal dort. Es ist nicht leicht, hier Freundschaften zu schliessen. Manche sagen «Neger» zu mir, und: «Geh zurück!» Ja, aber wohin denn? Doch es gibt auch viele, die nett sind und helfen wollen. Wenn das noch länger geht mit dem Lockdown, wird es immer schwieriger, an gute Drogen ranzukommen. Schon jetzt wird die Qualität schlechter, der Stoff ist gestreckt. Das ist gefährlich, gerade, wenn du wenig Geld hast. Dann schaust du nicht nach links, nicht nach rechts, du nimmst, was du kriegst.»
B., 48, seit 25 Jahren süchtig, ohne Arbeit, lebt in einem Heim
«Erst war es Hasch, dann kamen die harten Drogen. Zwischendurch war ich clean, hatte Arbeit, eine tolle Freundin, dann bin ich verunfallt, zehn Monate Spital, das war die Hölle, zum Glück lief am TV die Olympiade. Und dann war die Frau weg und auch der Job, und ich im Rollstuhl, einzig die Drogen, sie waren wieder da.» B. lebt in einem Wohnheim, sein Leben aber ist auf der Gasse, dort trifft er seine süchtigen Kumpel auf einen Schwatz; B. lacht, witzelt und stichelt, und er hilft, wo er kann, ein sonniges Gemüt, könnte man meinen. An manchen Tagen aber sei alles pechschwarz in ihm drinnen. Wenn nur Corona endlich vorüber wäre und die Berner Young Boys wieder aufspielen könnten! Darauf wartet B. jeden einzelnen langen Tag.
L., 53, ein Kind, seit 35 Jahren süchtig, ohne Arbeit, obdachlos
«Früher, da hatte ich viele Pläne. So richtig viele Pläne. Sagte mir: Sobald ich clean bin, mache ich dies und das. Glaub mir, ich habe mir viel eingeredet, war ziemlich gut darin. Heute bin ich realistisch. Ich bin alt, süchtig, habe keine Arbeit, schlafe auf der Strasse, also reden wir nicht drum herum: Ich habe mein Leben verkackt. Okay, vielleicht nimmt alles eine Wende und ich werde es tatsächlich noch einmal schaffen. Dann reden wir weiter. Aber nicht jetzt.»
P., 49, drei Kinder, süchtig, Sexarbeiterin
«Normalerweise habe ich fünf bis sechs Freier pro Nacht, jetzt sind es vielleicht zwei. Klar, dass die Preise so gedrückt werden. Ich weiss von Mädchen, die machen es für 30, alles inklusive. Schlimm ist das. Unter 100 gehe ich nicht, vielleicht mal 50 Blasen mit Kondom, aber nur bei Stammkunden. Zum Glück habe ich solche. Die kommen auch jetzt, Corona hin oder her.»
D., 34, seit 17 Jahren süchtig, ohne Arbeit
«Ich knie mich vor den Leuten nieder, wenn ich um Geld bettle. Das ist eine krasse Geste, ich weiss, aber für mich hat Betteln nichts Unwürdiges. Ich zwinge keinen, ich tue niemandem etwas zuleide, bin nicht kriminell. Ich bettle, das ist alles. An guten Tagen mache ich 100 bis 120 Franken, seit der Corona-Pandemie sind es vielleicht noch 40.»
T., 38, seit 20 Jahren süchtig, ohne Arbeit, obdachlos
Dort, an einem Pfeiler, wird sich T., 38, seit zwanzig Jahren süchtig, auch diese Nacht in ein Fleece einwickeln. «Isch emu gäng öppis», kichert er, der keine fünfzig Kilo mehr wiegt, besser also als nichts, und auf hundert besser als in der Stadt, wo ihn die Polizisten zweimal die Nacht wecken und fortschicken.
«Jetzt, da die Strassen leerer sind, sieht man uns überall. Und schon zeigen sie wieder mit ihren Fingern auf uns: Schau nur, die da! Vorher waren wir ja praktisch unsichtbar. Doch wir sind noch immer da. Die Corona-Krise aushalten? Für uns heisst das: durchhalten, jetzt, davor, immer.»Eine Viertelstunde später, die Tupfer voller Blut, hält T. die Spritze noch einmal gegen das Licht, «mach mich glücklich, nur ein bisschen, nur ein Tröpfchen», dann trifft er doch noch und sagt leise: «Klause, du wärst jetzt mause. Für mich ist das Nasenwasser.»
Klaus Petrus (*1967) arbeitet freiberuflich als Fotojournalist und Reporter und ist Redaktor beim SURPRISE Magazin. Er interessiert sich für soziale Konflikte, Krieg, Migration und Ausgrenzung und berichtet für nationale wie internationale Zeitungen und Magazine aus der Schweiz, dem Nahen Osten, Balkan und der Subsahara. Ein Interview mit ihm über die Arbeit in Krisengebieten hat der Filmemacher Konstantin Flemig in seinem Buch Alltag in der Hölle geführt.
Mehr zum Fotografen auf klauspetrus.ch
16 Kommentare zu «Sie müssen draussen bleiben»
jeder ist seines glückes schmied.ich finde nur eines sehr sehr schlimm,dass diese leute noch Kinder haben
Mich machen diese Bilder traurig und betroffen. Aber wir müssen zusammen helfen. Ich belehre niemand darüber, seine Sucht zu bekämpfen, es ist eine Krankheit, die einem befällt. Gefangen in der Sucht und geleitet. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, so eine Sucht zu haben. Unterstützen ob finanziell oder mit essen ja. Ich sehe es als stärken an, denn wer könnte so ein Sucht mit dem verbundenen Leid so lange aushalten.
Hammer, die Bilder machen mega betroffen! Bitte mehr Beiträge von dieser Art, das gibt es sonst fast nirgends mehr zu sehen!
Die Bilder lassen einen nicht los. Danke!
Mir fehlen die Worte. Es tut mir leid zu sehen wie vergessen und ‚am Rande‘ diese Menschen leben. Vielleicht sollten wir allgemein etwas geduldiger, warmherziger und offen sein. Zweite und dritte Chancen geben. Manche Leute haben keinen guten Start ins Leben und müssen viel mehr kämpfen um ein normales Leben zu haben.
Vielen Dank für diese ehrliche Reportage.
Die Fotorportage ist happig, aber sehr wichtig. Ich muss gestehen, dass ich so gar nichts über diese Menschen auf der Strasse weiss. Der Beitrag hat mir buchstäblich die Augen geöffnet.
Sehr eindrücklich, vielen Dank für diese Arbeit!
Danke für den berührenden Beitrag. Alle, die mit den Fingern auf diese Menschen zeigen, sollten dankbar sein, dass es ihnen nicht so ergeht. Jeden von uns kann plötzlich ein Eregnis treffen, das uns aus der Bahn wirft und uns den Boden unter den Füssen wegzieht, ganz nach Franz Kafkas „Die Verwandlung“: „Wie aber, wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen sollten?“
1. SW ist klassisch und reduziert auf das wesentliche.
2. Farben sind geschwätzig.
Warum sind eigentlich Bilder über Randständige immer Schwarz-Weiss?
interessante frage, aber ist das wirklich so, oder nur gefühlt? müsste man genauer anschauen. klaus petrus arbeitet oft schwarzweiss, teilweise auch analog. ich werde nachfragen was seine gründe sind und seine antwort gegebenenfalls hier posten.
Danke für die Frage. Ich arbeite sowohl in Farbe als auch SW, in diesem Fall aber war für mich rasch klar, dass es SW werden wird. Um mich in der Aussage aufs Wesentliche zu beschränken, auf Blicke, Gesten, Schatten, Konturen. Und damit es möglichst unmittelbar ist und nahe. Das könnte in Farbe sicher auch klappen, für mich ist es in SW irgendwien intuitiver. Dass solche Bilder in SW an «früher» erinnern, an die 1980er oder 90er Jahre, an Platzspitz etc., dünklt mich in diesem Fall ok; vieles hat sich verändert seitdem, vieles ist aber auch gleich geblieben.
Unglaublicher Beitrag. Danke
Wichtiger Beitrag! Sehr berührend!
Grossartiger Beitrag. Danke vielmals!
Werde ab jetzt jedem bettler etwas geben
Ich werde diese bilder nie mehr vergessen.