Fussbad für ein Skelett
Diese Vertrautheit mit den Dingen: Ein Bildband versammelt erstmals das verbliebene Werk der früh verstorbenen deutschen Avantgarde-Fotografin Aenne Biermann.
Porträt, 1930, Silbergelatineabzug, 23.1 x 17.8 cm. Stiftung Ann und Jürgen Wilde, München
Eine Gummibaumpflanze, Eier, die Tasten eines Klaviers: Die Sujets auf den Fotografien von Aenne Biermann könnten unspektakulärer kaum sein. Doch unter dem Blick der Autodidaktin wird sogar ein Stein zum visuellen Erlebnis. Da ist Struktur, Tiefe, eine eigenartige Kälte. Ausserdem sind ihre Schwarzweiss-Fotografien Zeitzeugnisse. Deutschland in den 20er- und 30er-Jahren, das ist die Zeit von Kriegsversehrten, von Sinnsuchern, von Visionären; von Einbauküchen und Sekretärinnen, aber auch von rauchenden Frauen mit Männerfrisuren wie Aenne Biermann. Künstlerinnen und Künstler der «Neuen Sachlichkeit» beginnen, die Welt ganz nüchtern darzustellen, nach dem Kern der Dinge zu suchen. Biermann begegnet dieser Sachlichkeit mit Zartheit. Oder wie sie es selbst in einem der wenigen Texte, die von ihr geblieben sind, formuliert: Sie schafft eine «Vertrautheit mit den Dingen».
Ohne Titel (Drei Eier), 1928, Silbergelatineabzug, 44.6 x 60 cm. Museum Folkwang, Essen
Junge von Hiddensee, 1930, Silbergelatineabzug, 23.6 x 17.5 cm. Stiftung Ann und Jürgen Wilde, München
Würfelbecher, 1928–1929, Silbergelatineabzug, 16.5 x 12.2 cm. Museum Folkwang, Essen
Nach der Geburt ihrer Kinder fängt die Tochter eines jüdischen Fabrikanten an, zu fotografieren. Schon in ihren frühen Bildern rückt sie ganz nah heran. Wenn ihr Sohn auf eine kleine Tafel schreibt, hört man die Kreide kratzen. Eine geschälte Mandarine wird zum Schlachtfeld aus Ornament und Fruchtfleisch. Später experimentiert sie mit Spiegelungen und Mehrfachbelichtungen, wählt extreme Unter- oder Aufsichten, enge Ausschnitte und reduziert ihre Bilder auf Schatten und Kontraste. Und sie beweist Humor. Etwa mit dem Bild eines Skeletts, das die Beine in ein Fussbad steckt und der Unterschrift: «Mir ist so kühl».
Obwohl Aenne Biermann nie eine Kunstschule besucht hat, findet sie schnell Anschluss an die Kunstszene, veröffentlicht in renommierten Kunstmagazinen, hat Ausstellungen in Deutschland und England. Dazu trägt sicher auch ihr Wohnort bei: Gera, nicht weit entfernt von Weimar, wo das Bauhaus gerade die Zukunft neu erfindet.
Andante Maestoso, vor 1928, Silbergelatineabzug, 47 x 35 cm. Stiftung Ann und Jürgen Wilde, München
Helga, um 1930, Silbergelatineabzug, 23.7 x 17.8 cm. Museum Folkwang, Essen
Kaktus, vor 1930, Silbergelatineabzug, 17.2 x 12.1 cm. Museum Folkwang, Essen
Kinderhände (Helga), 1928, Silbergelatineabzug, 12.3 x 16.6 cm. Museum Folkwang, Essen
Kristall, 1928–1929 Crystal Silbergelatineabzug, 12 x 16.9 cm. Museum Folkwang, Essen
Mit nur 34 Jahren, im Januar 1933, zwei Wochen vor Hitlers Machtergreifung, stirbt Aenne Biermann. Vermutlich an einem Leberleiden. Ihr Ehemann kann nur wenige Teile ihres Nachlasses ins Exil nach Palästina retten. Der grösste Teil ihres Archivs gilt als verschollen. Dass der Avantgarde-Fotografin vermutlich eine grosse Zukunft beschert gewesen wäre, beweist nun der Bildband «Aenne Biermann. Fotografin» in passend schlichter Aufmachung.

Aenne Biermann: Fotografin
Verlag Scheidegger & Spiess
Broschiert
184 Seiten, 68 farbige und 35 sw Abbildungen
21 x 28 cm
ISBN 978-3-85881-673-3
Preis: 39.- CHF
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