Kaffeeflecken auf der Seele
Der Bieler Fotograf Rolf Neeser widmet sich in seiner neuen Serie einem Leben, das nicht immer gradlinig verlaufen ist.
Es sind nur kleine Abweichungen von der Norm. Ein Hosensaum, dessen Naht sich langsam auflöst. Ein Strickpullover, der schräg über der Schulter hängt. Eine knorrige Hand, die einen abgewetzten Plastiksack umklammert. Und doch sind es eindeutige Zeichen dafür, dass im Leben von Ivan Stöcklin nicht alles gradlinig verlaufen ist.
Das Lehrerseminar in Küsnacht bricht er ab, es folgt eine Anstellung als Kanzlist beim Kantonalen Steueramt Zürich. Dann verlässt die Mutter den geliebten Vater, was Stöcklin völlig aus der Bahn wirft. Er entwendet Geld aus der Kasse, muss die Arbeitsstelle verlassen, hält sich mit kleineren Diebstählen über Wasser, übernachtet in abgestellten Güterwaggons oder auf der Strasse. Der Alkohol ist sein ständiger Begleiter.
In der Zürcher Heilanstalt Burghölzli fängt er an zu fotografieren. «Zur Ablenkung und als Hobby, statt im Kreis herumzulaufen und den Kopf gegen die Wand zu schlagen.» So erzählt er es dem Bieler Fotografen Rolf Neeser, der Stöcklin in den letzten Jahren mit der Kamera begleitet hat.
Er ist mit ihm durch die Strassen von Biel gewandert, der Stadt, wo Stöcklin die letzten dreissig Jahre lebte und arbeitete, stets unter fachärztlicher Betreuung. Er besuchte ihn in seinem kargen Zuhause, an der Wand grossformatige Selbstporträts, auf dem Tisch Kaffeeflecken und Tabakkrümel. Und immer wieder dieser Blick, der wirkt, als ob Stöcklin all den Dingen hinterherschaut, die ihm abhandengekommen sind.
«Ein Leben im Rausch» hat Neeser seine Reportage genannt. Neeser, der dieses Jahr mit seiner Arbeit über das Ehepaar Silvia und Walter Frei, beide 91, den zweiten Platz am Swiss Press Award gewann, beweist auch hier seinen respektvollen Umgang mit der menschlichen Seele – in Bildern, die mehr über die innere als über die äussere Verwahrlosung erzählen und sich dem Klischee des Süchtigen verwehren. Letzten August, zwei Monate nach Neesers letztem Besuch, ist Stöcklin an Herzversagen gestorben.
9 Kommentare zu «Kaffeeflecken auf der Seele»
Danke für diesen Beitrag.
Grad so wie der Schacherseppeli . Beerdigt grad neben dem Reichsten Mann.
Sehr geehrter Herr Neeser
Was für Bilder! Was für eine Wahrnehmung dessen was ist und welch Respekt für dieses subtile sich nicht allen öffnenden „Feld“.
Weiter ganz viel Freude „beim Sehen“.
ALT werden ist NICHTS für FEIGLINGE ???. Grüessli vo dr Kathia Mensch
Was man einem Kind alles an Unheil tun kann.
Er war gemäss Text schon erwachsen, als sich die Eltern trennten. In dem Alter sollte man das eher verkraften.
Vor mehr als 60 Jahren war Iwan ein Klassenkamerad von mir im Seminar Küsnacht. Man spürte schon damals, dass er tief in seiner Seele litt.
Nach seinem freiwilligen Austritt habe ich ihn aus den Augen verloren. Und nun diese Reportage. Erschütternd und traurig!
Berührend. Danke!
danke http://www.rolfneeser.ch