Als die Trottoirs noch voller Wunder waren

Vivian Maier, nun auch in Farbe: ein weiteres Kapitel aus dem Lebenswerk der fotografierenden Gouvernante.

Selbstporträt, Ort unbekannt, 1958, © 2018 John Maloof und Howard Greenberg / courtesy Schirmer/Mosel

Vivian Maier? Genau: die Frau, die zur weltberühmten Fotografin wurde, aber nichts mehr davon hatte, zumal sie schon gestorben war. 2009 hatte man sie in Chicago beerdigt, eine pensionierte Gouvernante, vereinsamt und verarmt. Zwei Jahre später bekam die Welt dann die Entdeckung aus ihren Habseligkeiten zu Gesicht und fragte sich, wie solche Meisterschaft heimlich hatte existieren können. Maier hatte ab den Fünfzigerjahren jede freie Minute fotografiert, sie hatte den Alltag auf den Strassen von New York und vor allem von Chicago eingefangen, aber niemandem je ein Bild gezeigt. Und so musste, was die Verwalter und Verwerter ihres Erbes pu­bli­zier­ten, Portion um Portion, als Sensation erscheinen.

The Art Institute of Chicago, Datum unbekannt, © 2018 John Maloof und Howard Greenberg / courtesy Schirmer/Mosel

Chicago, Oktober 1977, © 2018 John Maloof und Howard Greenberg / courtesy Schirmer/Mosel

Nun ist ein dritter Band mit Bildern Maiers da, nämlich farbigen nach den schwarzweissen. Und auch wenn der Verlag zur deutschen Ausgabe die krachende Übertreibung liefert, ­Vivian Maier sei die «Frau, die die Fotogeschichte auf den Kopf stellte» – nach der ganzen Auf­regung um sieht man die Dinge mittlerweile etwas klarer. Auch dank den neuen Bildern.

Chicagoland, April 1977, © 2018 John Maloof und Howard Greenberg / courtesy Schirmer/Mosel

Chicagoland, 1976, © 2018 John Maloof und Howard Greenberg / courtesy Schirmer/Mosel

 

Chicago, 1975, © 2018 John Maloof und Howard Greenberg / courtesy Schirmer/Mosel

Was die Foto­geschichte angeht: Ohne den Namen Maier kommen die Annalen der Street Photography tatsächlich nicht mehr aus. Für jene der Farbfotografie dagegen gilt das weniger: So prägnant, wie Fred Herzog oder Saul Leiter in jener Zeit die Buntheiten des urbanen Lebens sahen, als Pioniere des Farbfotos in der Kunst, hantierte Maier mit dieser Technik nicht. Dafür steckt auch in Szenen wie jenen aus Chicago 1975, 1977, 1978 und 1987 das Faszinosum, das man in Schwarzweiss von ihr schon kennt. Nämlich diese staunenswerte Geistesgegenwart, mit der sie durch die Strassen streift. Und dann die Gewandtheit, mit der sie Schritte, Gesten, Blicke aus dem Treiben eines scheinbar un­schein­­baren Alltags fischt. So nahe kommt man dem Schauspiel des öffentlichen Lebens sonst selten.

So nahe wird man ihm allerdings auch kaum je wieder kommen. Schon Vivian Maier drückte heimlich ab. Doch zur Arbeit des Fotografen auf der Strasse gehört heute der stete Argwohn der Passanten. Wenn nicht ihre Drohung mit dem Anwalt.

Chicagoland, Oktober 1975, © 2018 John Maloof und Howard Greenberg / courtesy Schirmer/Mosel

Chicago, Juli 1977, © 2018 John Maloof und Howard Greenberg / courtesy Schirmer/Mosel

Chicago, Dezember 1987, © 2018 John Maloof und Howard Greenberg / courtesy Schirmer/Mosel

Chicagoland, Juni 1978, © 2018 John Maloof und Howard Greenberg / courtesy Schirmer/Mosel

Maier_Farbphotographien_Cover_full

Vivian Maier,
Die Farbphotographien,
Schirmer/Mosel-Verlag
Grossformat,
240 Seiten, 153 Fotografien,
ISBN 978-3-8296-0862-6,
66.70 Franken

2 Kommentare zu «Als die Trottoirs noch voller Wunder waren»

  • Raess Rolf sagt:

    Es scheint als hätten sich gerissene Gauner schon wieder die Rechte der Toten Fotografin Maier unter den Nagel gerissen…
    Einfach unheimlich, dieser Casino-Kapitalismus!

  • Thomas Mayer sagt:

    Hobbykünstlerin ist der komischer Ausdruck. Entweder man macht Kunst oder nicht. Ob es ein Hobby oder ein Beruf ist, ist doch nebensächlich.

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