So schön ist die Normalität
Kann man ein ganzes Dorf porträtieren? Anatoliy Babiychuk versammelt die Leute im ukrainischen Horaivka vor seiner Kamera.
Vier Generationen des Lebens in Horaivka, von der Urgrossmutter bis zur Enkelin: Paraska Oleksiivna Levchenko (Jahrgang 1940), Larysa Andriivna Zinchuk (1968), Svitlana Olehivna Kozlova (1990), Mariia Anatoliivna Kozlova (2007).
Aus Kiew, der Hauptstadt, sind es 433 Kilometer bis hier. Doch nach 428 Kilometern endet der Strassenbelag: Die Schlussetappe ist ungepflastert. Willkommen in Horaivka!
Siebenhundert Einwohner zählte der Ort am Südwestrand der Ukraine einmal. Doch das war Anfang der Neunzigerjahre, als der staatliche Agrarbetrieb den Leuten Arbeit verschaffte; jetzt leben hier noch vierhundert. Die haben aber genug Geld gesammelt, um ein neues Gotteshaus zu bauen, und zwar an der Stelle, wo das Schwimmbad des Agrarbetriebs war: Es ist die Kirche des Heiligen Grossen Märtyrers Dimitrios von Saloniki. Dort hat der Fotograf Anatoliy Babiychuk nach einem Erntedankfest auch das obige Porträt aufgenommen.
Borys Vasyl’ovych Babliuk (1979), Traktorfahrer, heute Feuerwehrmann und Rettungssanitäter.
Schlicht «Horaivka» heisst das Projekt von Babiychuk. Der ukrainische Fotograf, 1975 geboren, heute in Wien zuhause, besucht das Dorf seit zehn Jahren jeden Sommer, um die Einwohner mitten in ihrem Alltag festzuhalten; daheim, in der Schule, im Auto, auf dem Acker. Fünfhundert Bilder hat er bereits – da ist wohl schon das ganze Dorf porträtiert.
Andreasnacht im Kindergarten, eine kirchliche Feier der Ukraine am 12. Dezember.
Taisia Ivanivna Vasylyshyn (1933) arbeitete ihr ganzes Leben im staatlichen Agrarbetrieb. Olha Pylypivna Kryzhanivska (1941) war Angestellte im Agrarbetrieb, danach Putzfrau in einem Kinderheim.
Ivan Petrovych Hramchuk (1947), Mechaniker beim staatlichen Landwirtschaftsbetrieb, pensioniert seit 2003.
Liudmyla Oleksandrivna Shybinska (1983), Primarschullehrerin seit 2013.
Halyna Illivna Halampeta (1964), Textilfacharbeiterin bis 2009, Kassiererin im Minimarket bis 2017.
Halyna Stepanivna Hotsuliak (1954), Milchbäuerin, Kassiererin, pensioniert seit 2005, und Natalia Mykolaivna Kasperska (1976), Hauswirtschaftsangestellte, Schneiderin, heute Arbeiterin in einem Obstbaubetrieb.
Vater Ihor Brytskyi (1985), Priester in der Kirche der Heiligen Apostel Peter und Paul.
Dmytro Suduk (2007) im Kindergarten.
Für Anatoliy Babiychuk geht es, wie er erklärt, um eine «Studie» seiner Heimat. Er hat sein Kunstdiplom, stellt sein Stativ aber ganz ohne Kunstflausen vor den Leuten auf, und gerade weil dieses Arrangement so einfach und eindeutig ist, kommt man den Bewohnern dieses entlegenen Winkels Europas so nahe. Und genau darum sind diese Bilder ein Glück. Es haben ja längst genug Fotografen aus dem Westen das Bild des Ostens erobert mit ihrer Sehnsucht nach einem rauen, schmutzigen und darum scheinbar authentischen Leben. Hier dagegen: der von solchen Dingen ungetrübte Blick auf die ganze Normalität in einer Gegend mit ungepflasterten Strassen.

Anatoliy Babiychuk: Horaivka.
Edition Fotohof, Wien 2018.
Englisch/ukrainisch.
148 Seiten, 98 Bilder, etwa 38 Franken.
ISBN: 978-3-902993-57-1
11 Kommentare zu «So schön ist die Normalität»
@Allan Protisil: geht es Ihnen gut? Wo haben Sie da Hoffnungslosigkeit und Zerfall gesehen? Was heisst „Die Ukrainer können einem nur leid tun.“? Es ist kein Bild der gesamten Ukraine. Horaivka ist ein abgelegenes Dorf, in welchem Menschen trotz sehr einfachen Verhältnissen glücklich leben können.
Die Gesichter von meinen Helden sind ernst, weil wir eine andere Haltung und Vorstellung darüber haben, wie man sich vor der Kamera stellt. Bei uns hieß es und glaube ich, heißt nach wie vor: Lächeln ohne Grund ist kein Indiz für besondere Hellköpfigkeit :) Vor allem wenn ich vor einem mir unbekannten Mensch bzw Fotografen stehe, warum sollte ich ihn anlächeln? „Armut“ ist relativ, ja, sie haben keinen iPhone X, fahren keinen Ferrari, wird man durch den Besitz von solchen Sachen glücklicher?
@ Anatoliy Babiychuk: Herzlichen Glückwunsch zu diesem Projekt. Mir gefallen die Bilder sehr! Die Bilder wecken Sehnsucht nach dem einfachen Leben – und nach einer Reise in die Ukraine.
Leichtes, luftiges, natürliches, farbiges, frugales Leben im Sommer. Im Winter aber?
Einfach nur traurig. Zerfall, Elend und Armut, Stillstand und Hoffnungslosigkeit. So zu leben wünscht man niemandem. Die Ukrainer können einem nur leid tun.
Wo denn? Von 6 Gebäuden oder Zimmern ist nur eines ein wenig baufällig, die anderen sind hübsch und zweckmässig eingerichtet. Man sieht keine Extra-Schäbigkeit wie zerschlissene Jeans und umgekehrt getragen Dachkäppli. Kinder-Zivilisationskrankheiten wie Asthma, Allergien, chronische Darmentzündungen, Nervosität und Kopfweh haben die sicher nicht.
@Aletsch
Ihnen ist aber schon aufgefallen, dass kein einziges der Kinder lacht?
Und die Erwachsenen lächeln, weil sie der Fotograf dazu angehalten hat. Unbeschwertheit sieht anders aus.
“Hübsch und zweckmässig eingerichtete Zimmer“ – ich glaube kaum, dass Sie bereit wären, in solchen Bruchbuden zu hausen.
Diese Bilder sind zwar in ihrer Weise auch kitschig, aber das gefällt mir dann doch noch besser, als was in den letzten Jahren im „Bauernkalender“ zu sehen war. Aber nicht, dass jetzt jemand denkt, ich würde mir sowas in die Stube hängen.
Wunderschoene Aufnahmen. Schade nur, dass nicht einmal die Kinder ein froehliches Gesicht zeigen koennen.
Ist mir auch aufgefallen. Das Leben muss sehr hart sein, trotz der schönen Natur.
Ich habe die Gesichter gezählt, bei den Erwachsenen lächelt die Hälfte. Man muss sich vorstellen, dass das für diese Leute eine unbekannte Situation ist, besonders für die Kinder. Es gibt einen Dokumentarfilm eines Berliner Filmemachers, worin er das Leben in einem Dorf, wenn nicht in Polen, dann in der Ukraine, über den Sommer durch verfolgt. Nicht besonders dramatisch, wie bei uns in den 60-ern. Das Leben dannzumal war natürlicher.