Lang lebe die graue Vorzeit

Sie läuft und läuft und läuft: Nähmaschine von US-Hersteller Singer, dem 1851 gegründeten Weltmarktführer. Foto: Alejandro De La Cruz (Flickr)

«Ich gehöre wie alle Nähmaschinen hier zum alten Eisen», sagt die spindeldürre, grauhaarige Mercedes schmunzelnd. Sie habe zwar keine Zähne mehr im Mund und ihr Körper sei ein Klappergestell, doch sie nähe noch fadengrad und zuverlässig wie die Singer. Die amerikanische Nähmaschine aus Gusseisen und mit Fussantrieb stand schon in diesem Nähatelier – ein Holzgebäude mit Palmblätterdach – an der Hauptstrasse im Dorf Viñales, als Mercedes kurz vor der kubanischen Revolution 1959 hier als junge Taglöhnerin zu arbeiten begann. Mercedes ist inzwischen 77 Jahre alt, die Singer noch älter, seit über fünf Jahrzehnte fertigen sie in dieser staatlichen Näherei in Kubas äusserster Westprovinz Pinar del Río Schul- und Militäruniformen sowie weisse Kittel für Ärzte und Krankenschwestern.

«Je älter desto besser»

Mercedes arbeitet noch, weil ihre Pension von zehn Franken monatlich nicht zum Leben reicht, die Singer, weil sie nicht totzukriegen und die einzige Maschine ist, mit der man auch dann nähen kann, wenn der Strom ausfällt – was nicht selten vorkommt, wie die Vorarbeiterin mit einem leisen Seufzen erwähnt. Alle anderen Maschinen sind elektrisch, aber auch schon uralt. «Je älter desto besser», sagt die Vorarbeiterin. Nicht ohne Stolz betont sie, dass hier ausschliesslich mit Nähmaschinen «aus kapitalistischer Produktion» gearbeitet werde, hauptsächlich Singer und einige japanische Brother, allesamt Modelle aus Zeiten vor der Revolution.

In Ernest Hemingways Finca steht eine Corona-Schreibmaschine made in USA. Foto: Bruce Tuten (Flickr)

Relikte aus jener Epoche, die Kubas kommunistische Regierung als graue Vorzeit des mafiösen Kapitalismus verflucht, sind im Alltag auf der Insel noch heute auf den Strassen, in vielen Haushalten und Staatsbetrieben präsent und in Betrieb: amerikanische Autos, Kühlschränke, Ventilatoren, Registrierkassen, Mixer, Haarschneider, Rasierklingen, Türschlösser, Fensterbeschläge, Werkzeug. Viele rosten und rattern, aber sie funktionieren. Wenn sie schwächeln und den Geist aufgeben, werden sie mit viel Tüftelei und Erfindergeist repariert und modifiziert, aber nie und nimmer weggeworfen.

China steht für Schrott

Ist irgendwann einmal wirklich nichts mehr zu machen, wird jedes noch brauchbare Einzelteil wiederverwertet. Eine verrostete Stahlschraube oder ein verkrümmtes Scharnier made in USA vor 1959 kostet bei den Occasionshändlern mehr als ein neues Teil made in China in einem staatlichen Eisenwarenladen.

Unsterblich: Blick unter die Haube eines Oldtimers in Havanna. Foto: Matthias Uhlig (Flickr)

Die Kubaner sind allergisch auf chinesische Ware. China steht für Schrott und kurze Lebensdauer. Der Staat betreibt eine Kette von Geschäften, die Billigware verbilligt anbieten, weil sie schon defekt geliefert wurde. In den staatlichen Reparaturwerkstätten türmen sich die chinesischen Waschmaschinen und Kühlschränke. Ein chronisches Problem sind die schlechten Gummidichtungen – und dass seit September kein Ersatz mehr geliefert wird. Warum? Weiss wie immer niemand.

Weil Kuba immer mehr made in China ist, stehen die alten amerikanischen Marken höher im Kurs denn je. Antike Geräte von General Electrics, Frigidaire, Wahl Clipper, Westinghouse, Gillette und die Oldtimer von Ford, Chrysler, Dodge, Plymouth, Chevrolet werden gehütet und gepflegt wie Reliquien. Die Näherin Mercedes ist überzeugt: «Die gute alte Singer-Nähmaschine wird mich überleben – und auch die Revolution.»

Fuss- und Handarbeit ohne Stromanschluss: Blick unter eine Singer-Maschine. Foto: Clara S. (Flickr)

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5 Kommentare zu «Lang lebe die graue Vorzeit»

  • Ulrich Drübbisch sagt:

    Muss mich nochmal melden, denn es wird immer noch das hohe Lied auf die limitierte Lebensdauer zugunsten der Produktion gepredigt.
    Höherlebige Geräte benötigen natürlich Wartung und Ersatzteile, jedoch bedeutet Dies lediglich eine Verlagerung von Produktionskräften auf die Wartungskräfte.
    Ein erhöhter Lagerbedarf ist eine Annahme, denn gute Ersatzteile nach DIN können natürlich wie Federbeine oder Schrauben auch länger in Einsatz von Produktion und Wartung kommen.
    Sie werden einfach nachproduziert.
    Kurzgeschrieben: auch Ersatz-u.Verbrauchsteile können statt Lager nachproduziert werden.
    zum Thema Umweltschutz: 75% des Feinstaubes kommt nicht aus dem Motor, sondern wird durch Strassenabrieb, Bremsstaub und Reifenabnutzung verursacht (Statistik!)
    Also weg mit SUV,s und Lkw,s.

  • Michael sagt:

    Man überlege sich einfach, was mit der Wirtschaft passieren würde, wenn jedes Gerät 10 Jahre und länger halten würde. Und wenn es für jedes Gerät auch 40 Jahre lang Ersatzteile geben würde. Daran hätte der Verbraucher zwar ein hohes Mass an Interesse, aber was interessiert die Wirtschaft schon das Interesse der Verbraucher. Ergo wird nicht so qualitaiv gebaut wie es eigentlich möglich ist und schon ist der rasante Kreislauf erstellt. Wobei wir uns als mündiger Verbraucher auch ein bisschen an die eigene Nase fassen müssen. Muss es immer das neuste Handy sein, sobald von seiner Lieblingsmarke ein neues Model auf dem Markt ist besispielsweise ??

  • Roland Heinzer sagt:

    Die schönen Amerikanischen Autos laufen nur dank kleinen Hyundai oder Renault Motoren, diese alten Dieselmotoren verpesten die Umwelt. Es gibt sie noch die Originalautos, aber die müssen rund um die Uhr bewacht werden, sonst dienen sie den Dieben als Ersatzteillager. Kuba hat eine Energiekrise, es fehlten die Kartoffeln, die Leute vesuchen alle an die CUCs heran zu kommen. Die Läden sind leer, wer die Augen offen hat kann erkennen, was der Sozialismus erreicht hat. Eine Politikerklasse der es gut geht, dazu die Profiteure vom Tourismus und dem Rest geht es schlecht. Schade um das schöne Land, die Schuld der Blockade zuzuschreiben ist die falsche Diagnose.
    Es braucht eine Verändrung im Denken der Eliten. Nur im Strandhotel waren die Leute freundlich, aber ich kann sie verstehen.

    • Franz Müller sagt:

      Hoi Roli! War in den letzten 20 Jahren viermal in Kuba als Tourist. Stimmt alles was Du schreibst, nur damals war alles noch viel schlimmer als heute! Hand aufs Herz: Wäre Kuba den üblichen Weg der Nachbarinseln in der Karibik gegangen, wie würde Kuba heuet aussehen? Voll von gaffenden Tuoristen, sämtliche Strände dieser Rieseninsel, über 1000 Km mit Hotel-Burgen der hässlichen Sorte wie in an der Costa del Sol in SP, überbaut? Drogenorgien ohne Ende, Ballermann-Saufereien und Abfälle wie in Mallorca? Natürlich ist das Soz. Experiment in Kuba kläglich gescheitert. Nur im Gegensatz zu früher, können alle Kubaner lesen und schreiben, in Haiti ist das nicht der Fall, Santo Domingo auch nicht! Wünsche Kuba, alles Gute, ohne zu grossen Einfluss der USA!

  • Ulli Drübbisch sagt:

    Tja und irgendwann kommt unsere „westliche“ Konsum-Gesellschaft auch dahinter, dass der hiesige bunte chipgesteuerte Plastikschrott nicht mal den Preis wert ist.
    Wollen Sie es mal „live“ nachprüfen?
    Dann gehen Sie in ein Kaufhaus, wählen ein Produkt, welches Sie gerne hätten und überlegen sich einfach, wann Sie es wiederr wegwerfen,um sich „was Besseres“ zu kaufen….
    Glauben Sie nicht? Dann denken Sie mal an den tollen Schnäpchen-Laptop und überlegen Sie wann Sie ein neueres Modell billiger bekommen.
    Also besser warten….spart Geld.

    Unser Problem wird sein, dass unsere „Klassiker“ an Gütern inzwischen alle über das Recycling systematisch „verwertet“ wurden und uns die kubanische Option gar nicht mehr zur Verfügung steht.

    Willkommen bei „schrott-way of no return“

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