Verirrt im Busbahnhof

Je höher man kommt, desto heller wird es: Blick in den 6. Stock der Tel Aviv Central Bus Station. Foto: Mozesy2k~commonswiki (Wikimedia)
Wer den Schildern folgt, der ist verloren. Auch die Rolltreppe scheint geradewegs ins Nirgendwo zu führen. Und diese rund geschwungene Rampe dorthin, die sollte man wohl besser meiden. Denn wer nicht alle seine Sinne nutzt in diesem Busbahnhof, der kann leicht den Anschuss nach Jerusalem verpassen – und landet dann zum Beispiel mitten in Manila.
Der Neue Zentrale Busbahnhof von Tel Aviv, der 1993 nach nicht einmal 30 Jahren Planungs- und Bauzeit in Betrieb genommen wurde, ist von aussen ein Monstrum und innen ein Labyrinth: 230’000 Quadratmeter Fläche auf sieben Stockwerken, sieben Kilometer gewundene Gänge ohne Tageslicht, 1600 Läden, von denen mehr als die Hälfte leer stehen. Bis zu 100’000 Menschen hetzen hier durch an jedem Tag. Sie sind hier, weil sie weg wollen. Dabei wäre es so lohnend zu bleiben. Denn an diesem Ort hat auch die Kultur eine Heimat gefunden.
Manila liegt im Erdgeschoss
Das fängt schon in Manila an, wohin man von hier aus reisen kann, ohne ein Flugzeug zu nehmen. Nicht einmal einen Bus braucht man. Man muss sich nur im Erdgeschoss, das nach der hier geltenden Verwirrungslogik als 4. Stock bezeichnet wird, ein wenig treiben lassen.
Vorbei an den Läden mit den Laptops und den Tanktops, einmal rechts, zweimal links und ein paarmal im Kreis – und schon ist man mitten in Südostasien, wo freitags zum Karaoke gebeten wird oder eine der vielen jungen Gastarbeiterinnen die anderen mit Klängen aus der Heimat erfreut. Umrahmt wird die offene Bühne von philippinischen Wechselstuben und Bankfilialen, philippinischen Reisebüros und dem Manila-Mini-Market mit all den Originalwaren. «Die Oishi-Chips sind die besten», sagt freundlich die philippinische Ladenbesitzerin.
Vom vierten Stock, dem Erdgeschoss also, steigt man dann drei Stockwerke hinab ins verlassene Reich der Finsternis. Von den einstmals grossen Plänen ist hier ein Kinopalast geblieben mit sechs Sälen, deren pompöse Ruinen sich im Licht einer Taschenlampe besichtigen lassen. Von Zeit zu Zeit werden die Räume noch genutzt von einer Theatertruppe, die sich passenderweise Mystery nennt.
Raus findet man mit dem Bus
Der Gegenentwurf zu diesem Schattenreich findet sich im fünften Stock, wo die Wände bemalt sind mit Graffiti von 150 Künstlern aus aller Welt. Maler und Architekten haben sich in verlassenen Ladenlokalen eingerichtet, und in einem Kulturzentrum namens Yung Yidish wird mit Büchern, Theateraufführungen und Konzerten die jiddische Sprache als bedrohte Art gepflegt.
Wer nun wieder hinaus will in die wirkliche Welt, der hat zwei Möglichkeiten: Er wagt den Weg zurück durchs Gewirr der Gänge – oder nimmt einfach den Bus nach Jerusalem. Von dort aus soll es gute Verbindungen zurück nach Tel Aviv geben.
Peter Münch ist Israel-Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung» in Tel Aviv. Als Reporter war er auf dem Balkan, in Afghanistan, Pakistan und im Irak im Einsatz.
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