Mysteriöse Gier nach Dreck

Erde enthält einige für den Menschen gesunde Stoffe, aber auch schädliche. Foto: Sigit Pamungkas (Reuters)
Das Phänomen ist so alt wie die Menschheit und hat sogar einen wohlklingenden Namen: Geophagie. Trotzdem redet kaum jemand darüber, weil es offensichtlich ehrenrührig ist: Wer will schon zugeben, dass er gerne Dreck isst oder sogar regelrecht süchtig danach ist? In Afrika, vor allem im südlichen Teil des Kontinents, ist das Phänomen allerdings dermassen verbreitet, dass Gesundheitsexperten jetzt Alarm schlagen. «Die Frauen müssen dringend auf die Gefahren der Angewohnheit hingewiesen werden», sagt die südafrikanische Ärztin Lungi Masuku, «weil sich in der Erde jede Menge schädlicher Bestandteile wie Würmer, Tierkot und Pilze befinden können». Nach den Recherchen des südafrikanischen Gesundheitsdienstes «Health-E News» ist das Phänomen in ganz Südafrika verbreitet.
Thuli Malindzi isst nach eigenen Angaben schon seit zehn Jahren Dreck. Die lehmige Erde, die sie von zu Hause in der Ostkap-Provinz gewohnt war, schmecke wie «Butter-Toffee» und zergehe auf der Zunge, erzählt die 22-Jährige: Täglich esse sie mindestens ein Schokoladentafel grosses Stück davon. Doch seit sie in Kapstadt lebt, hat sie Schwierigkeiten, an die süsse heimatliche Erde zu kommen: «Ich lasse mir immer welche von zu Hause mitbringen.»
Je lehmiger, desto besser
Wissenschaftler rätseln schon lange über den Ursprung des seltsamen Gelüstes. Weil vor allem Frauen in anderen Umständen zum Dreckessen neigen, wird angenommen, dass das Phänomen mit Mineralienmangel in Verbindung steht: Der Körper der Schwangeren giert nach den Stoffen, die er braucht. Dagegen ist nach Auffassung von Gesundheitsexperten auch gar nichts einzuwenden: Denn tatsächlich befänden sich besonders in weissem, lehmigem Dreck wertvolle Materialien wie Eisen, Kalzium und Zink – sowie Kaolin, das schon seit langem in Medikamenten zur Behandlung von Erbrechen, Durchfall oder eben der Schwangerschaftsübelkeit zur Anwendung kommt. Wenn nur die Nebenwirkungen des Erdessens – wie Verstopfung, Wurm- und Pilzbefall – nicht wären.
In Johannesburg wird in Päckchen abgepackter Dreck von Strassenhändlern auf dem Bürgersteig angeboten. Ein Streichholzschachtel grosses Stück lehmiger Erde wechselt für 10 Rand (rund 70 Cents) den Besitzer. Als Leckerbissen wird die Erde von Termitenhügeln gehandelt: Sie ist besonders fein, weil sie schon einmal durch den Körper der Krabbeltiere gegangen ist. Grundsätzlich gilt: Je lehmiger der Dreck, desto besser – auf keinen Fall darf er sandig sein.
Worüber Wissenschaftler allerdings völlig im Dunklen tappen: dass der Genuss von Dreck offenbar süchtig macht. Wenn sie an ihre Erde denke, fülle sich ihr Mund mit Speichel und ihre Kieferknochen kitzelten, erzählt Thuli Malindzi. Sie müsse sicherstellen, niemals ohne ihren Dreck zu sein, «sonst werde ich verrückt». Ayanda Dlamini aus der Provinz KwaZulu-Natal war schon «mehr als dreimal» wegen Gastritis im Krankenhaus: «Trotzdem kann ich nicht aufhören», sagt die 28-Jährige. Und wenn es eine Entziehungskur für Dreckesser gäbe, fügt sie hinzu, «wäre ich die erste Patientin.»
Ärzte stellten beim Röntgen in den Mägen von mit starken Bauchschmerzen ins Hospital eingelieferten Frauen schon ganze Erdballen fest. Erdgeniesser müssen mindestens mit chronischer Verstopfung rechnen, aber auch Infektionen, Tetanus-Erkrankungen und sogar Bleivergiftung sind nicht ausgeschlossen. «Ich weiss, dass das Dreckessen nicht gut für mich ist», sagt Dineo Ramatsa aus dem Slum «Orange Farm» bei Johannesburg, die zum ersten Mal während der Schwangerschaft mit ihrem jüngsten Kind vor sieben Jahren ein Stückchen Erde gekostet hat. «Aber ich werde meine Sucht nicht los.»
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