Pekings Häuser verschwinden über Nacht

Hungrig? Immer schön der Ente nach! «Schnitzeljagd» in Peking. Foto: Tomoaki Inaba (Flickr)

Hungrig? Immer schön der Ente nach! «Schnitzeljagd» in Peking. Foto: Tomoaki Inaba (Flickr)

Kennen Sie das? Sie wachen auf und die Welt ist weg? Oder vielleicht nicht weg, aber doch ein Stückchen verrutscht. Irgendetwas stimmt nicht, aber was? Vielleicht dreht sich die Erde links herum statt wie gestern noch rechts herum? Vielleicht war das Töchterlein, das jetzt «Papi» rufend auf Ihren Bauch hechtet, gestern noch ein kleiner Sohn?

Vielleicht aber stand auch da, wo Sie heute freie Sicht auf die Gasse haben, gestern noch ein Haus. Ein Nudellokal. Das Lokal, dessen Ausscheidungen regelmässig den Gulli vor Ihrer Tür verschleimten. Böses, böses Nudellokal. Stimmt! Da hing doch gestern Abend ein Zettel. «Verehrte Nachbarn. Wir renovieren …» Renovieren. Und jetzt ist das Haus verschwunden.

Verschönerung mit Bulldozer

Obwohl. War ja nicht das erste Mal. Während unserer ersten Jahre hier hatten wir immer wieder mal Freunde zu unseren Lieblingsrestaurants gefahren, um vor Ort festzustellen, dass das Lokal nicht nur geschlossen hatte. Es war einfach nicht mehr da. Die ganze Strasse war nicht mehr da. Stattdessen gähnte da eine gigantische Baugrube. Oder letzten Sommer: die Panik in den Augen der Berliner Schwiegermutter, die ihre Lieblingsjacke der Schneiderin nebenan zum Flicken gegeben hatte – am nächsten Tag aber war da keine Schneiderin mehr. Der Laden verrammelt. Eine Betrügerin? Nein: Die Schneiderin war umgezogen. Über Nacht. Sie residiert jetzt 50 Meter weiter hinten. Einmal, es war vor Olympia 2008, spazierte ich mit dem Schweizer Architekten Jacques Herzog durch Peking. Verrückt, sagte der, die ganze Stadt werde «umgespatelt». Wenn man selbst Pekinger ist, also zu denen gehört, die mit umgespatelt werden, dann ist das ganz schön ermüdend.

Ich war eben in Sichuan mit Freunden, die in einem Pekinger Hutong eine Bar betreiben. Während wir unterwegs waren, marschierten plötzlich zu Hause in Peking die Behörden zur «Verschönerung» des Hutongs an. Und zwar mit Bulldozer. Die Vorderwand der Bar war offenbar vom Vermieter vor vielen Jahren einmal 20 Zentimeter zu weit in die Strasse hinein gebaut worden. Der Bescheid der Polizisten aus der Ferne: Sie würden die Wand jetzt abreissen, aber, keine Sorge, am nächsten Tag 20 Zentimeter weiter hinten wieder aufbauen. Und das taten sie. Sie setzten sogar die Eingangstür zur Bar wieder in die neue Wand. Aber sie waren noch nicht fertig: Direkt vor der neuen Hauswand, zwischen Bar und Gasse, zogen sie zur Verblüffung aller noch eine zweite, frei stehende Mauer hoch. Eine Mauer ohne Tür. Ohne Weg hinein oder hinaus. Sie mauerten die Bar also ein.

Eine neue Tür ins Nichts

Als meine Freunde wieder in Peking waren, schlichen sie durch die Höfe der Nachbarn von hinten in ihre geschrumpfte Bar und standen dann drin perplex vor ihrer neuen Tür ins Nichts. Öffneten sie und stiessen mit den Nasen an die neue Mauer davor. Eingesperrt. «Tja», sagte ihnen die Baupolizei schulterzuckend. «So war das in den alten Plänen eingezeichnet.» Ach, flüsterte am Ende einer, alles halb so schlimm: Wartet einfach bis Oktober, dann kommen die Inspektoren der Stadt und begutachten unsere Arbeit. Und sobald die wieder weg sind … Er zwinkerte ihnen zu.

Irgendwann bin ich aufgewacht, und die Welt, also unser Nudellokal, war wieder da. Naja, fast. Exakt drei Tage nach dem Abriss stand da ein nagelneues Haus. Keine uigurischen Nudeln mehr. Renoviert. Wiedergeboren als Fleischklopsbrater. Schlechtes Karma.

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4 Kommentare zu «Pekings Häuser verschwinden über Nacht»

  • Nick Schaefer sagt:

    In einem Strassenzug unweit des Beijing Zoo war 1994 ein wunderbares Ausgehviertel. Dichtgedrängte Uigurische Nudellokale.
    Die Menschen sassen vergnügt an vollen Strassentischen, liessen es sich schmecken, und schauten dem Vogelhändler und seiner zwitschernden Ware in den kunstvollen Käfigen zu.
    2004 war ich wieder dort.
    Aber war ich wirklich dort?
    Wo war ich? Besser gesagt, wo waren die ganzen Restaurants, wo waren all die fröhlichen Menschen, das ganze Strassenleben?
    Ich stand vor einem weiss gekachelten, anonymen 15-stöckigen Neubau, in einer leblosen Strasse.
    .
    Wir sind solches nicht gewohnt.
    Der Neubau hat sicher Sinn.
    Aber ich vermisste „mein“ studentisches Beijing.
    .
    Auffallend: Auch im Artikel von Strittmatter verschwinden Uigurische Lokale: Innere Sicherheit?

  • Gunnar Jauch sagt:

    Solche Vorkommnisse sind in der PRC dutchaus üblich. Hat ein Investor von der Behörde (meist via Bestechung) ein Grundstück zur Bebauung erworben, wird an die Haustüre in einem Kreis das Zeichen 拆 („chāi“ = zerstören, abbrechen) angepinselt. Den Bewohnern bleibt danach ein Monat, um in eine meist weit ausserhalb der Stadt liegende Liegenschaft umzuziehen.

  • Hotel Papa sagt:

    Hihi. „Umgespatelt“. Da hat der Autor wohl einen Dialektausdruck falsch verstanden. „Umegspatted“ sagen wir, mit dem Spaten umgestochen.

    Auf gut Hauchdeutsch würde man wohl sagen: ‚umgepflügt‘.

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