Kopfstand

A red flag covers a soldier from Chinese honour guards during a welcoming ceremony for Swiss President Johann Schneider-Ammann at the Great Hall of the People in Beijing, China, April 8, 2016. REUTERS/Kim Kyung-Hoon - RTSE57T

Stramm stehen, egal wie der Wind weht: Chinesische Soldaten beim Empfang des Schweizer Bundespräsidenten Johann Schneider-Ammann. Foto:  Kim Kyung-Hoon (Reuters)

Gerade bin ich wieder in Peking aus dem Flieger gestiegen. Im Gepäck wie so oft Schweizer Nussstengeli und die Himbeerkonfitüre der Schwiegermutter, dazu erstmals ein alles durchdringendes Gefühl: Die Welt steht Kopf. Und das lag nicht nur an dem Taxifahrer, der nicht ein einziges Mal fluchte und überhaupt so ausnehmend höflich war, dass ich mich am Ende mithilfe des GPS meines Handys noch einmal vergewisserte, dass ich wirklich in Peking gelandet war.

Die Ereignisse der letzten Wochen – Nizza, Türkei, München, Ansbach – habe ich in Europa miterlebt. Den Schock, das Bangen, das Gefühl, überrollt zu werden, zu ertrinken im schier unwirklichen Strom der Nachrichten. Der Satz «die Welt steht Kopf» aber, der schoss mir erst durchs Hirn, als mir kurz vor meiner Abreise aus München ein paar Kollegen und Freunde gratulierten zu meiner Rückkehr ins «sichere China».

Moment mal.

Schon klar, der Satz war stets ausgesprochen in mal mehr, mal weniger scherzhaftem Ton, und doch blieb er mir stecken im Gehörgang. Richtig quer legte er sich spätestens gestern, als mich eine ebenfalls das Jahr über in Peking wohnhafte Bekannte aus Deutschland anrief und mir nebenbei sagte, sie vertreibe sich die Wartezeit auf ihren Zug in Hamburg gerade mit einem Spaziergang, traue sich aber nicht in den Bahnhof, und, ja, sie sei nun «froh, demnächst wieder in Peking sein zu dürfen». Erstmals beschlich mich eine mehr als nur theoretische Ahnung von der Anziehungskraft der starken Hand.

Ist er das, der diskrete Charme der Diktatur? Wo der Staat für Friedhofsruhe sorgt, wo die Kriminalitätsraten niedrig sind, wo Terror und Krisen einem nur in Ausnahmefällen ans Gemüt gehen, weil Zensur und Propaganda sie ausblenden. Autoritäre Herrscher halten ihre Untertanen in jenem Zustand kindlicher Naivität, für den die englische Sprache das schöne Wort «blissful ignorance» kennt, seliges Unwissen. In ihren Staaten kann man nachts sicher durch die Strassen gehen, es sei denn, man gehört zu jenen, die die Polizei dann holt. Und auch da kann man Vorsorge treffen, indem man vorbeugend Hirn und freien Willen abgibt.

Die «New York Times» schrieb anlässlich Donald Trumps von jenen Momenten in der Geschichte, «da die Menschheit gepackt wird von einer Art Massenhypnose, der keine Macht sich entgegenstellen kann». Ist sie schon da, die Welle, die alles wegspült, Wahrheit, Fakten, Vernunft? An deren Stelle dann giftige Furcht ihr Haupt erhebt? Doch, fürchten sollten wir uns: vor dem Ertrinken des Verstandes in Konfusion und Hysterie. Vor der Überreizung unserer Sinne, die uns nicht mehr klar sehen lässt. Nicht die eigenen Stärken wie Offenheit, Reflexion und Freiheit, und nicht das Trügerische in den Versprechen der Demagogen.

Im ewigen Tauschhandel zwischen Freiheit und Sicherheit nimmt der autoritäre Herrscher dem Bürger das eine komplett und verspricht dafür das andere in hohem Masse. Ohne am Ende zu liefern freilich, weil es zum Wesen des autoritären Staates gehört, den vereinzelten Bürger in einer Dunkelheit leben zu lassen, die nur simpleren Naturen Geborgenheit suggeriert, für viele aber mit existenzieller Verunsicherung einhergeht. Müsste ich aus den letzten vier Jahren Peking den Satz zitieren, den ich am öftesten zu hören bekam, es wäre dieser hier: «mei you anquangan» – «Wir leben in Unsicherheit.»

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13 Kommentare zu «Kopfstand»

  • Hans Müller sagt:

    Wohnt in Peking und hat wohl eine Luftreinigungsanlage im Haus installiert, schaut täglich auf die Luftqualität-App, die es in dieser Form nur in Asien gibt (und braucht) und lässt sich täglich zu seinem Lieblingsrestaurant chauffieren, weil ein Taxi dort eben halt nichts kostet, es verdienen ja nicht alle so viel wie der Auslandkorrespondent.
    Ansonsten aber ein geglückter Vergleich. Wirklich. China und Europa. Auf derselben Stufe, na klar.

  • Joe Imfeld sagt:

    In China wird sich nur ein Westler der genügend Geld hat und die Realitaet der chinesischesichen ‚Buerger‘ nicht versteht und nachvollziehen kann, sicher fûhlen.
    Der Altag der Chinesen ist geprägt von Angst Willkür und ständiger Vorsicht. Zur falschen Zeit am falschen Ort kann das Ende bedeuten. Diese immer vorhandene latente Angst ist sehr anstrengend und einengend. Und einer der großen Unterschiede, der Westler kann jederzeit das Land verlassen , der Chinese nicht. Ich habe 10Jahre in China gelebt und bin sehr froh wieder hier in der Schweiz leben zu können, wo ich mich übrigens sehr sicher fühle.

  • Josef Marti sagt:

    Aus der geschützten Warte persönlichen Wohlstands, Existenz und Sicherheit lässt es sich immer leicht und locker salbungsvoll predigen.

  • René Glücki sagt:

    Ausgezeichneter Kommentar, Herr Strittmatter. Ja, es ist soweit. Die „Law and order“ Heilsversprecher (hier ist es die SVP) nehmen landauf, landab zu und erhalten Zuspruch. Viele Tagi-Kommentarschreiber sehen keine Gefahr, die von Putin, Le Pen, Wilders oder anderen Rechtsnationalisten ausgehen. Zu verlockend ist der Minnegesang, der die totale Sicherheit vor Terror, Überfremdung, Kulturverlust, Arbeitsplatzverlust, etc. verspricht. Der Verstand und die Fähigkeit, die Welt als Konstrukt von Kompromissen zu sehen werden an der Parteiveranstaltung oder vor dem Ausfüllen des Wahlzettels ausgeschaltet.Bin ich der einzige, der sich Sorgen macht?

  • K.A. Barett sagt:

    Ein Freund von mir, der geschäftlich häufig in Kiew zu tun hat, sagt mir immer wieder, wie sicher er sich in dieser Stadt fühlt. Viel sicherer, als in Zürich, Lausanne oder Genf. Als „Referenz“ könne der Ausgang am Abend genommen werden. In Kiew: entspannte Geselligkeit, auch in den Bars. Auf der Strasse kein ungutes Gefühl. In Schweizer Städten: eine fühlbare, permanente Spannungslage. Viele junge Männer eindeutig nicht zentraleuropäischer Herkunft, die eine gewisse herausfordernde Aggressivität erkennen lassen, relativ häufig auftretende Gewalt. Mit anderen Worten: die idyllische „Heidi-Schweiz“ existiert nur noch in den Prospekten von Schweiz-Tourismus. Die Ukraine ist keine…

    • René Glücki sagt:

      Hr. Barett. Dann ziehen Sie doch um? Z.B. nach Thun, oder Bern, oder Solothurn. Da ist es mir noch nie „Gschmuech“ geworden im Ausgang. Und in den von Ihnen zitierten Städten übrigens auch nicht…!

  • jonny blue sagt:

    Wer China hochlebt, lebt seine diktatur hoch, die jetzt auch im suedchinesisschenmeer hohe wellen schlaegt und anrainer staaten wie zitronen ausdrueckt. Danke ich bleibe wo ich bin (Vietnam-Cambodia-Thjailand-Lao) und sehe mehr als genuegend China unwesen hier!!!!!!

  • Ralf Schrader sagt:

    Es gibt Phänomene, welche auch nach langer Beschäftigung schwer zu durchschauen sind. Für Risiken gilt das nicht. Die reduzieren sich auf eine Relativzahl. Angewandt auf den Terror rechen ich, dass es in CH, D viel wahrscheinlicher ist, Lotto- Millionär, als Terroropfer zu werden. 10.000 x wahrscheinlicher sterbe ich an einem fehlerhaft ausgeführten medizinischen Eingriff, antiobiotikaresistente Keime inklusive. Die Zahl des Terrorrisikos ist so klein, dass ich erst einmal in meiner Masseinheitenfibel nachschlagen muss, wie man die ausspricht.
    Subjektiv kann es sagen, für mich existiert Terror überhaupt nicht.

    • Benni Aschwanden sagt:

      Ein einziges Bombenattentat, ein einziger Amoklauf mit Dutzenden Toten würde genügen – und Ihre Statistik wäre im Eimer.

      • K.A. Barett sagt:

        @Benni
        Völlig richtig. Mit Statistiken allein ist kein Blumentopf zu gewinnen. Auch dann nicht, wenn man „nur jenen traut, die man selbst gefälscht hat“. (Churchill)
        Es ist richtig, dass man nach Massgabe der Wahrscheinlichkeitsrechnung eher an einer allgemeinen Sepsis im Spitalbett stirbt, als bei einem islamistischen Terroranschlag. Froh stimmt einen diese Erkenntnis aber nicht. Die gefühlte Sicherheit ist ebenfalls wichtig.Die Politiker müssen diesen Faktor berücksichtigen.

        • René Glücki sagt:

          Indem die Politiker Ihnen das blaue vom Himmel lügen und behaupten, sie könnten Ihnen die totale Sicherheit garantieren? Sie müssen nur Ihren freien Willen, Ihre Gedanken und Ihre Freiheit aufgeben. Ist Ihnen dieser Preis für „Sicherheit“ nicht zu hoch? Mir ist er es!

      • Ralf Schrader sagt:

        Das ist falsch. Auch in Frankreich 2015 wird es der Terror nicht in die Liste der ersten 5 nichtnatürlichen Todesursachen schaffen. Die Kluft zu den iatrogen Todesfällen ist mit 4-5 Zehnerpotenzen einfach viel zu hoch. Da reichen weder Dutzende, noch hunderte Tote im Jahr. Heute allein werden in der Schweiz 6-10 Menschen im Spital eines nichtnatürlichen Todes sterben. Das müssen Terroristen erst einmal schaffen.

        Aber wer Risiken lieber fühlt, soll es halt tun. Nur den anderen damit nicht auf den Wecker gehen.

  • Matthias sagt:

    Wie kommt man wohl auf die Idee, man wäre in China (oder irgendwo auf der Welt) sicherer als in der Schweiz? Immerhin lag die Schweiz 2015 bei der durchschnittlichen gesundheitsgewichteten Lebenserwartung (HALE) beider Geschlechter mit 83.4 Jahren auf Platz 2 (direkt hinter Japan mit 83.7 Jahren). China lag mit 76.1 Jahren auf Platz 53 – auch nicht schlecht, aber kein Vergleich zur Schweiz, welche wohl nahe am Optimum ist, was man mit heutiger Technik und Medizin erreichen kann. (Zahlen der WHO, „Life expectancy increased by 5 years since 2000, but health inequalities persist“, 19. Mai 2016)

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