Klima der Angst

Morde, Boulevard – und Nordkorea: Ein kleines Mädchen in einem Unterhaltungselektronikladen in Tokio. Foto: Shizuo Kambayashi (Keystone)
In Shizuoka hat am Sonntag ein 14-Jähriger einen Gleichaltrigen mit einem langen Messer schwer verletzt, er stach ihm mehrfach in den Bauch und den Rücken. Etwa zehn Mittelschüler ihrer Banden standen dabei.
Vorletzte Woche wurde ein 19-Jähriger zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte mit Freunden einen jüngeren Mitschüler monatelang gequält, gefoltert, zu Diebstählen gezwungen und ihn dann mit einem Kartonmesser abgeschlachtet. Der 13-Jährige habe sich bei ihm zu sehr angebiedert, das sei ihm auf die Nerven gegangen, so der Mörder.
Japan wird immer wieder von grausamen Morden erschüttert, die Täter sind oft sehr junge Männer. Vielen älteren Japanern macht das Angst. Unsere Nachbarin meint, die modernen Mütter würden ihre Buben nicht mehr richtig erziehen. «Und dann Nordkorea, der Terrorismus und die Chinesen, zum Glück lebe ich nicht mehr lange», so die 76-Jährige düster.
Vom Fernsehen kennt sie jedes Detail der Morde. Es weidet widerwärtige Verbrechen fast genüsslich aus. Erst recht, seit die Regierung die Medien unter Druck setzt, nicht kritisch über ihre Politik zu berichten. Selbst das öffentlich-rechtliche Fernsehen macht nun sogar die Hauptnachrichten ausführlich mit Boulevardthemen auf, irgendetwas muss es ja berichten. Damit hilft es implizit auch, eine Law-and-Order-Politik zu rechtfertigen.
Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Gewiss gibt es auch in Japan gelegentlich schreckliche Verbrechen – wie überall. Die Kriminalitätsrate jedoch sinkt seit 2002 jährlich, auch unter Jugendlichen. 2015 ging sie gegenüber dem Vorjahr um 9,3 Prozent zurück. Mit 8,6 Verbrechen auf tausend Einwohner hat sie den Tiefststand seit dem Zweiten Weltkrieg erreicht. In der Schweiz ereignen sich doppelt so viele Verbrechen pro Kopf – und 70 Prozent mehr Morde. In den USA sind es 13-mal mehr Morde als in Japan. Dennoch fürchten die Japaner gemäss der Statistik-Site www.nationmaster.com die Kriminalität mehr als die Schweizer oder die Amerikaner.
Dabei vermag die Statistik allein nicht zu zeigen, wie sicher Japan ist. Dazu müsste man auch die Ehrlichkeit messen.
Am Montag nach den Skiferien rief unsere Quartierbibliothek an, ein Hotel in Hakuba habe sich gemeldet, man habe eines ihrer Bücher gefunden. Unsere Tochter hatte noch nicht einmal bemerkt, dass es ihr fehlte. Ein Anruf in Hakuba, und am nächsten Tag kam es per Post.
Auf einer früheren Fahrt in die Berge hatte der Vater eine Mütze verloren. Genau bedacht, konnte das nur beim Michi-no-Eki in Kobuchisawa passiert sein. Michi-no-Eki, deutsch Strassenbahnhof, nennt man Raststätten an der Landstrasse, in denen die Bauern ihre lokalen Produkte verkaufen, vor allem Gemüse. Auf der Fahrt in den Skiurlaub hielten wir dort kurz an, um nach der Mütze zu fragen. Aber es war ein Dienstag, und Dienstag ist Ruhetag. Indes reparierte ein älteres Handwerkerpaar ein Klo. Sonst sei niemand da, und Schlüssel hätten sie nicht, sagten die beiden. «Wie sieht die Mütze denn aus?» – «Wir fragen einfach auf der Rückfahrt wieder.» – «Wann?» – «Am Samstag.» Am Samstag lag die Mütze in einer durchsichtigen Tüte im Bauernladen neben der Kasse bereit.
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