Rollendes Obdach

Für Obdachlose ist der Weg das Ziel: Unbekannter Passagier in einem Nachtbus im Londoner Stadtteil Shoreditch. Foto: R4vi (Flickr)
So schlimm ist in London die Lage der Obdachlosen geworden, dass karitative Organisationen zu neuen, extremen Massnahmen greifen. Ein Verband, der seit einem halben Jahrhundert jungen Leuten ohne Dach über dem Kopf in der britischen Hauptstadt Notschlafplätze vermittelt, hat jetzt berichtet, dass er neuerdings Fahrkarten für Nachtbusse austeile.
Den Bettenlosen wird erklärt, welche Busse die besten, ruhigsten und weitesten Kreise ziehen. Auch Schlafsäcke werden ausgegeben – damit die unfreiwilligen Reisenden sich warm halten können auf ihrem Platz im roten Doppeldecker. Morgens wird ihnen dann von der Organisation New Horizon Youth Centre Gelegenheit zum Duschen geboten und ein warmes Frühstück. Anders, meint Verbandschefin Shelagh O’Connor, komme man dem Problem des akuten Bettenmangels an der Themse nicht mehr bei.

Shelagh O’Connor lässt Obdachlose Bus fahren, «wenn es wirklich keine andere Lösung mehr gibt». Foto: Twitter
Vor fünf Jahren, erklärt O’Connor, habe man noch für jeden Bedürftigen in London einen Schlafplatz gefunden. Seit 2010 aber – seit dem Jahr, in dem David Cameron Premierminister wurde und seine scharfe Austeritätspolitik begann – hat sich die Zahl der Unbehausten in England auch nach Regierungsangaben um die Hälfte erhöht. Die Zahl junger Obdachloser in London, melden die Wohlfahrtsverbände, soll sich sogar verdoppelt haben in dieser Zeit.
Sozialhilfekürzungen, hochgeschnellte Mieten und neue Restriktionen bei der Finanzierung von Notunterkünften durch englische Gemeinden haben allesamt zu dieser Situation beigetragen. Weitere Wohngeldstreichungen sind bereits geplant. Zugleich hat sich das Angebot an Herbergsbetten vermindert. Die meisten Wohlfahrtsorganisationen, die Obdachlosen helfen, klagen ausserdem über finanzielle Einbussen und schwindende Kapazität.
2010 noch, meint Shelagh O’Connor vom New Horizon Youth Centre, hätte sie jedem Bedürftigen in London einen ordentlichen Herbergsschlafplatz besorgen können. Heute sei das nur noch für jeden zweiten möglich. Für manche der Hilfesuchenden gebe es zur Not geteilte Quartiere, Schlafecken in besetzten Häusern oder Plätze in Behelfszelten in Parkanlagen. Andere müssten «rough», also auf der Strasse, schlafen: «Die Lage ist zum Verzweifeln. Sie war noch nie so schlimm.»
Um wenigstens die am meisten Gefährdeten zu schützen, hat sich O’Connors Verband nun für die unkonventionelle Idee mit den kreisenden Nachtbussen entschieden. «Das tun wir», sagt die Obdachlosenhelferin, «wenn es wirklich keine andere Lösung mehr gibt. Wir erklären den Betreffenden, welche Routen sie benutzen könnten, und raten ihnen, vorsichtig zu sein, sich ihrer Umgebung bewusst zu bleiben und im Notfall mit dem Busfahrer zu sprechen.» Ideal sei das natürlich nicht, räumt O’Connor ein: «Aber was ist am Ende sicherer? Irgendwo unter freiem Himmel zu schlafen – oder in einem Bus?»
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