Das grösste Graffiti Grossbritanniens

Eingebrannt im Stein: Das Gillian-Clarke-Gedicht liess sich nicht mehr vom Felsen wischen. Foto: National Theatre Wales, PD
Das Nationaltheater von Wales gehört zu den mutigsten Theatern der Britischen Inseln. Es wandelt auf gänzlich unkonventionellen Wegen. Zum Beispiel lädt es für November zu einer Vorstellung ein, bei der die Theatergäste irgendwo zwischen dem englischen Bristol und dem walisischen Newport im freien Gelände herumstapfen werden. Teilnehmern an dieser Inszenierung wird empfohlen, wetterfeste Kleidung, Wasserflaschen und eine kleines Zvieri mitzubringen. Ach ja: Und eine Bahnfahrkarte, um überhaupt nach Newport zu kommen.
«Bordergame», Grenzspiel, nennt sich das neue Stück des Theaters. Die Beteiligten haben die Aufgabe, aus dem «Vereinigten Königreich von Neubritannien und Nordirland» (also aus England) in die «Autonome Republik Cymru» (also in eine Art Freies Wales) überzuwechseln. Weil die Grenze geschlossen ist, muss man Schmuggler kontaktieren, die einen heimlich nach Cymru bringen sollen. Zuschauer daheim entscheiden online über Verlauf und Ausgang des Dramas.
Hartnäckige Poesie am Fels
Aufsehen erregt hat dasselbe Theater schon vor «Bordergame» mit seiner letzten Aufführung «The Gathering» (Die Zusammenkunft). «The Gathering» ging an drei Tagen im September über die Bühne. Genauer gesagt: Über die Hügel und Täler Snowdonias, des nordwalisischen Berglands. Dort wurde das zahlende Publikum gleich einer Schafherde über die Weiden getrieben, um jeweils vier Stunden lang im innersten Innern die Poesie der Landschaft und den Fluss der Zeit zu erfühlen.
Schafsvliese an alten Steinmauern waren aufzustöbern. Die Töne einer Blechbläser-Kapelle wehten über die Kuppen. Und auf einen 30 Meter hohen Felsvorsprung war ein riesiges Gedicht der walisischen Nationalpoetin Gillian Clarke aufgemalt worden. «Lyrisch, aber unsentimental» nannte eine Theaterkritikerin hingerissen das Ganze. Die Vorstellung bringe «den Berg zum Singen».
Und nicht nur zum Singen. Auch zum Aufheulen, am Ende. Denn mit einem hatten die Theaterleute nicht gerechnet: Das Gillian-Clarke-Gedicht liess sich nicht mehr vom Felsen wischen. Einer der markantesten Kletterfelsen in Wales ist, mehrere Wochen nach dem Ende der Show, zum Stein gewaltigen Anstosses geworden. Ausgerechnet im Herzen des Nationalparks von Snowdonia sei «das wohl grösste Stück Graffiti» in ganz Grossbritanniens aufgetaucht und nicht mehr wegzukriegen, klagen Bergsteiger und Wanderer empört.
Wenn man ihn braucht, bleibt der Regen aus
Grund für die Panne ist, dass kein Regen die Aufschrift gelöscht hat, wie es das Theater erwartete. Der September war der trockenste seit vielen Jahrzehnten auf der Insel. Die Sonne hat die Schrift geradezu in den Lehm eingebrannt. Beschämt hat auch der National Trust zu der Affäre Stellung nehmen müssen. Der Trust – die Natur- und Denkmalschutz-Behörde Britanniens – hatte dem Nationaltheater Erlaubnis für den poetischen Erguss am Felsen erteilt.
«Merkwürdigerweise», erklärte der Trust diese Woche kleinlaut, «hat es nicht so viel wie sonst geregnet. Sonst schüttet es doch immer nur in Wales!» Das Nationaltheater schickt unterdessen eine Putzkolonne nach der anderen nach Snowdonia, um die Kulisse seiner Schafs-Show wieder sauber zu kriegen: «Unglücklicherweise» brauche »das Abtragen des Gedichts am Felsen länger als geplant».
«Jahrelang» werde man nun womöglich mit dieser «Naturverhunzung» leben müssen, murren Park-Besucher, die wenig Sinn für innovatives Theater und offenbar auch nicht viel Respekt für Gillian Clarke haben. Viele Waliser kommen allerdings aus dem Lachen nicht mehr heraus. Immerhin ist ihrem Nationaltheater das Kunststück gelungen, der Nation im Nationalpark eine nationale Schande zu bereiten – mit einem Opus der nationalen Dichterin.
BBC-Beitrag zum Riesengraffiti. Video: Youtube
Ein Kommentar zu «Das grösste Graffiti Grossbritanniens»
Als irgendwann in der Steinzeit die Höhlenmalereien von Lascaux angebracht wurden, gab es sicher ähnliche Kontroversen. Falls das Gedicht im Laufe der Jahre nicht doch noch verschwindet, werden ein einigen Jahrtausenden vielleicht auch die Archäologen darüber rätseln, wie es entstanden ist oder was diese seltsamen Zeichen bedeuten sollen.
Es gibt schlimmere dauerhafte von Menschen verursachte Umweltschäden als das.