Archiv für die Kategorie ‘Historisches’

Digitales Testament

Webflaneur am Dienstag den 23. April 2013

Sanft streichelt der Webflaneur über die Ornamente des Ledereinbands. Er wiegt das Büchlein in der Hand. Dann öffnet er das metallene Schlösschen. Sachte schlägt er die erste Seite auf. Ein Mann im Sonntagsgewand blickt ihn ernst an. Der Webflaneur nickt ihm freundlich zu. «Ururgrossonkel?», fragt er. Andächtig blättert er weiter durchs alte kleine Album mit den aufwendig gemachten Fotografien adrett gekleideter, sorgfältig frisierter Menschen – seinen Ahnen.

Dabei gerät er ins Grübeln: Was passiert mit seinen Fotos, wenn er nicht mehr ist? Werden dereinst auch Verwandte in seinem Album blättern? Hoffentlich, findet er. Bloss: Niemand kennt das Passwort zu seinem Computer, und kaum jemand kann sich auf dem Netzwerkspeicher einloggen, auf dem seine Fotos liegen. Das werde er demnächst mal anpacken, beschliesst er.

Eine Vorkehrung trifft er aber sofort: Bei Google, wo er einen Teil seiner Fotos, diverse Statusmeldungen, GPS-Daten und einige Dokumente gespeichert hat, regelt er seinen digitalen Nachlass. Das ist neu ganz einfach möglich: Man wählt sich im eigenen Google-Konto ein und klickt an, was im Fall der Fälle mit den Daten geschehen soll. Nachdem er sich während eines halben Jahres nicht mehr eingeloggt hat, so bestimmt der Webflaneur, soll Google ihn zu kontaktieren versuchen. Misslingt dies, werden die Daten vererbt. Als Treuhänder setzt er einen Freund ein, der technisch versiert ist, gerne in Archiven stöbert und fast alles dokumentieren zu müssen glaubt. «Leider musste ich vorzeitig gehen», bereitet er die Nachricht vor, die irgendwann dem Freund zugestellt wird. «Als kleines Souvenir überlasse ich dir, was sich an Digitalem im Leben so angesammelt hat. Mach damit, was du für richtig hältst. Bitte bewahre aber auf, was für Ururgrossneffen von Interesse sein könnte. Eine letzte – wenn auch leider nicht mehr wirklich warme – Umarmung, dein Webflaneur.»

C64

Webflaneur am Dienstag den 25. September 2012

Was man mit diesem «Brotkasten» denn anstellen konnte, fragt die Kollegin. «Brotkasten» klinge etwas despektierlich für einen Computer, der Geschichte geschrieben hat, weist der Webflaneur sie zurecht. Dann erzählt er: Auf dem Commodore C64, der vor 30 Jahren in den Handel kam, habe man vorab gespielt. Und man habe beim Abtippen ellenlanger Listenings aus Magazinen erste Programmiererfahrungen gesammelt. Selbstverständlich habe es auch «seriöse» Software gegeben: Textverarbeitungen etwa und Tabellenkalkulationen. Allmählich wird der Webflaneur sentimental: Er beschreibt das Gerät in der Ludothek, bei dem die vereinbarte Spielzeit nach dem Laden der Software vom Kassettengerät – der Datasette – schon fast abgelaufen war. Und er berichtet von schulfreien Nachmittagen, während denen seine Freunde und er sich als pixlige Olympioniken versucht haben. Einen eigenen C64 habe er leider nie besessen; sein Vater bevorzugte einen PC von IBM. Etwas neidisch auf die günstigeren Geräte der Freunde sei er aber gewesen: wegen der grafischen Games und der avantgardistischen Musik. «Die IBM-Kiste hingegen konnte nur piepsen.»

Wie die C64-Games ausgesehen hätten, fragt die Kollegin. «Ich zeige es dir», sagt der Webflaneur und schreitet zum Rucksack. «Scherzkeks», ruft sie, «du hast keinen dabei». Nein, sagt er. Aber einen normalen Computer. Es gebe Emulatoren, mit denen die alten Programme noch heute abgespult werden könnten: Vice etwa oder Frodo und CCS64. Wer einen solchen zum Laufen bringe, könne – Basteltalent vorausgesetzt – sogar das alte Zubehör ansteuern. «Die Datasette?», fragt sie. «Genau», sagt er. Wer aber bloss C64-Luft schnuppern wolle, probiere besser Nachbildungen aus. Er startet einige Games auf Websites wie C64x.de und C64s.com. Später programmieren die zwei noch ein bisschen in Basic. Und der Webflaneur fühlt sich nochmals ganz schön jung.