Archiv für die Kategorie ‘Gemeinschaftliches’

Love me Tender

Webflaneur am Dienstag den 20. Dezember 2011

So etwas tut einem ein echter Freund nicht an: Legt dieser der Einladung zur Party doch eine lange Liste mit Musiktiteln bei. Und er schreibt von einem «Silvester-Songcontest, der letzten grossen Chance, in diesem Jahr noch berühmt zu werden». Seine Vorgabe ist klar: Wer eingelassen werden will, hat auf die Bühne zu klettern. Der Webflaneur verflucht den Karaoke-Boom, den ein grosser Game-Hersteller vor Jahren losgetreten hat und dem nun offenbar auch sein Freund erlegen ist. Er erwägt zuerst, seinen Auftritt am betreffenden Abend mit einem Arsenal an Ausreden immer weiter zu verschieben, bis dieser schliesslich im Trubel des Jahreswechsels vergessen ginge. Doch dann sieht er ein: Dieses Mal kommt er am Karaoke-Singen wohl nicht vorbei. Deshalb ackert er die lange Liste mit den Songvorschlägen durch. Viele Stücke kennt er kaum. Und auch all diese Fistelstimmesänger und ihre Songs streicht er; sie sind für ihn mit seinem sonoren Bass schlicht unerreichbar.

Schliesslich bleiben nur wenige Titel übrig. Darunter entdeckt der Webflaneur «Love Me Tender» von Elvis Presley. Nun ist für ihn klar: Er wird diese Ballade zum Besten geben – jenen Song also, mit dem er beim notenrelevanten Vorsingen in der siebten Klasse aus purer Not die Lehrerin zu bezirzen versuchte, was ihm immerhin eine Fünfeinhalb einbrachte. Doch eben: Das ist Jahrzehnte her. Damit der aktuelle Auftritt sitzt, muss er üben. Die Kassette von damals hat er längst nicht mehr.

Deshalb sucht er Karaoke-Websites. Er stolpert über einige weniger seriöse und mehrere, denen offenbar der Schnauf ausgegangen ist. Schliesslich schreibt er sich auf Singsnap und Thekaraokechannel ein. Auf einer findet er den Elvis-Song. Der Webflaneur übt und übt – und hofft, dass an Silvester der Alkohol der Gäste Urteilsfähigkeit trübt.

Die Einladung

Webflaneur am Dienstag den 23. August 2011

Nichts habe er unversucht gelassen, sagt der entfernte Bekannte: Er habe sich frühzeitig eingeschrieben und eine halbe Ewigkeit lang ausgeharrt. Dann habe er jeden Winkel der Website nach Registrationslinks durchkämmt – vergeblich. Nun sei er ratlos, konsterniert und wütend: «Offenbar will man mich nicht dabeihaben», wettert er. Es sei «unprofessionell», dass Google ein solches Tamtam veranstalte, ohne dem Ansturm gewachsen zu sein.

Der Webflaneur, der ihm still zugehört hat, schüttelt den Kopf. «Im Gegenteil», sagt er, «das zeugt von Professionalität.» Das neue Soziale Netzwerk Google+ befinde sich in der Testphase. Es sei vernünftig, die Schleusen langsam zu öffnen – und zu beobachten, was passiert. So könne Google Fehler ausmerzen und testen, ob alles stabil läuft. «Ich will rein», stösst der Bekannte hervor. Er müsse sich gedulden, wiegelt der Webflaneur ab. Und er fügt er an: Er beschreibe ihm in der Zwischenzeit, wie Google+ funktioniere. Im Zentrum stünden Kreise. Jeder Kontakt werde zumindest einem davon zugeordnet – dem Familienkreis etwa, dem Freundes-, Kollegen- oder Bekanntenkreis. Nun könne man Texte, Fotos und Videos für einzelne Kreise freigeben. «Schliesslich erzähle ich Bekannten nicht alles, was ich Freunden anvertraue.» Zusätzlich gebe es Gruppenchats – wahlweise per Text oder Video. Letzteres sei besonders spektakulär: Bis zehn Personen könnten an einer Videokonferenz teilnehmen. Die Software merke dabei automatisch, wer das Wort führe und rücke diese Person gross ins Bild. Neu habe Google zudem eine Spielecke eröffnet und mache damit definitiv Facebook Konkurrenz.

«Schön und gut», sagt der entfernte Bekannte. «Ich wills aber selbst probieren.» Der Webflaneur sagt mit einem Augenzwinkern, er müsse halt die Kontakte spielen lassen. «Bitte doch ein Google+-Mitglied im Bekanntenkreis um eine Einladung – ganz freundlich.»

Das Cookie

Webflaneur am Dienstag den 24. Mai 2011

Vielleicht suche er nicht dasselbe wie sie, sagt der Webflaneur. Sie schaut ihn fragend an. «Vielleicht fahre ich auf anderes ab», versucht er zu erklären. Deshalb mache es wenig Sinn, dass Suchmaschinen wie Google oder Bing auf sämtliche Anfragen mit derselben Trefferliste antworteten. Da sie ihn immer noch schief anguckt, versucht er es anhand eines Beispiels. Er nimmt einen der selbst gebackenen Kekse aus der Schale, die sie aufgetischt hat. «Was erwartest du, wenn du der Suchmaschine den Begriff ‹Cookie› fütterst?», fragt er. «Dass diese ein gutes Rezept ausspuckt», antwortet sie. «Ich nicht», sagt der Webflaneur. Er erwarte Angaben zu Cookies, wie sie im Web zur Erkennung von Seitenbesuchern gesetzt würden.

Die Suchmaschinenbetreiber rüsteten derzeit auf, sagt er: Google etwa führe den Dienst Social Search in weiteren Sprachen ein. Dieser wertet die Empfehlungen von Freunden auf sozialen Netzwerken wie Twitter aus – und alles andere, was sich aus öffentlich zugänglichen Quellen, den bei Google gespeicherten Kontakten oder den abonnierten Inhalten im Reader herauslesen lasse. Auch Googles grosser Konkurrent arbeite an Ähnlichem: Microsoft habe gerade – vorerst im englischsprachigen Angebot – die Suchmaschine Bing mit Facebook verknüpft.

Bald schon dürften Inhalte, die Freunde und Bekannte veröffentlicht haben, weiter oben in der Trefferliste erscheinen als solche von Unbekannten, doziert er weiter. «Suchen wir nach ‹Bärenpark›, kommen wir an den Fotos des befreundeten Hobbyfotografen nicht mehr vorbei.» Zudem werde unter den Treffern eingeblendet, wenn Freunde einen Link empföhlen.

«Doch was passiert», unterbricht sie den Redefluss des Webflaneurs, «wenn ich als deine Facebook-Freundin nach ‹Cookie› suche?» Dann kriege sie wohl auch eine gehörige Portion technischer Dokumentationen ab, antwortet der Webflaneur. Und er beisst herzhaft in ein Cookie, ein süsses.

Der Rüffel

Webflaneur am Dienstag den 3. Mai 2011

Sie schaut ihn mit grossen Augen an. «Wusstest du das nicht?», fragt sie. Der Webflaneur schüttelt den Kopf. Nein, das habe sie ihm bis heute noch nicht erzählt, sagt er. In versöhnlichem Ton fügt er hinzu: Sie hätten sich seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen. Und das Buschtelefon funktioniere nicht mehr wie in der guten alten Zeit. Sie schaut ihn noch immer ungläubig an. «Aber ich habe es auf Facebook geschrieben», sagt sie. «Sind wir dort nicht Freunde?» – «Doch, schon», antwortet der Webflaneur. Er habe den Neuigkeitsfluss auf Facebook aber etwas plätschern lassen. «Ach ja», sagt sie kurz und spitz. «Ausgerechnet du!»

Der Webflaneur versucht es mit tausendundeiner Entschuldigung: Er habe viel gearbeitet, führt er etwa an. Das lässt sie nicht gelten. Und auch nicht, dass er die strahlende Sonne dem leuchtenden Monitor vorgezogen habe. Oder dass ihn der lahme Internetanschluss ausbremste. «Mea culpa», sagt der Webflaneur schliesslich, um der leidigen Diskussion ein Ende zu setzen. Sie habe recht: Er sollte öfters mal wieder auf Facebook vorbeischauen, um Anteil zu nehmen am Leben seiner Freundinnen und Freunde.

Wieder zu Hause: Praktisch wäre, wenn ihm stets gemeldet würde, wenn sich auf Facebook und Twitter Wichtiges tut, sinniert der Webflaneur. Genau dies verspricht der soziale Webbrowser Rockmelt. Wer damit surft, sieht auf der linken Seite stets, was im sozialen Netz abgeht. Und auf der rechten Seite lässt sich die eigene Pinnwand einblenden. Zuerst ist der Webflaneur ganz begeistert von diesem Konzept. Dann aber merkt er: Die Statusmeldungen lenken ihn ab. Deshalb wechselt er zurück in seinen puristischen Browser. Und gewöhnt sich eines an: Bevor er Kolleginnen trifft, besucht er sie mal kurz auf Facebook.

Auf der Piste

Webflaneur am Freitag den 18. Februar 2011

Der Kollege Skifahrer hat die Messlatte hoch gelegt: Schätzungsweise 62 Kilometer bolzte er während eines Skitages. 27-mal bestieg er einen Lift. Insgesamt hat er fast 10 Höhenkilometer zurückgelegt. Der Webflaneur staunt. Um die Fahrt zu überbieten, müsste er die Stöcke unter die Arme klemmen und tief in die Hocke gehen, sagt er sich, als er die Fahrdaten des Kollegen zu Hause studiert. Wobei: Machte er nicht auch eine volle Stunde Mittag, könnte er es schaffen.

Der Webflaneur beschliesst, Skiline – ein System zur Fahrtenerfassung – zumindest auch einmal auszuprobieren. Das Skigebiet, in dem er am häufigsten herumkurvt, macht jedenfalls mit. Und es ist einfach, die Fahrten aufzuzeichnen: Immer wenn man die Tageskarte ans Lesegerät hält, macht dieses einen Eintrag im Logbuch. Wieder zu Hause, gibt man auf der Website die Nummer der Tageskarte ein. Schon sieht man, welche Bahnen man wann bestiegen hat. Auch die Anzahl Höhenmeter blendet der Webdienst ein. Und er errechnet auch gerade, wie viele Kilometer man ungefähr gefahren sein muss. Alle Infos können abgespeichert werden. So hat man selbst Ende Saison noch den Überblick, wann man wo auf der Piste war und wie lange man im Restaurant sass. Zudem kann man sich mit Skikollegen messen und versuchen, mehr Höhenmeter als diese zurückzulegen.

Vorläufig bleibe er aber zu Hause und warte auf neuen Schnee, beschliesst der Webflaneur. Er vertreibt sich die Zeit derweil mit einer kleinen Rechenübung. Kollege Skifahrer hat für seine Tageskarte 59 Franken bezahlt. 27-mal hat er einen Lift genommen. Pro Bergfahrt hat er also Fr. 2.19 bezahlt. Der Pistenkilometer kam ihn dabei auf 95 Rappen zu stehen. «Bei diesem Preis hättest du besser das Auto genommen», schreibt der Webflaneur dem Kollegen Skifahrer.

Was soll das?

Webflaneur am Dienstag den 25. Januar 2011

Wer wohl auf so etwas gewartet habe, fragt sie – noch bevor der Webflaneur ihr die soeben entdeckte Website demonstrieren kann. Er zuckt mit den Schultern. Leider wisse er auch nicht, ob diese Plattform zum grossen Renner werde. Die Internetszene und die Risikokapitalgeber zumindest seien euphorisch: Sie erwarteten, dass sich Quora in diesem Jahr durchsetze. «Ich weiss, das nächste grosse Ding», sagt sie mit spöttischem Unterton. «Vielleicht», sagt der Webflaneur. «Zumindest wissen die Gründer wohl genau, was sie tun. Einer war schon bei Facebook am Ruder.» Auch das Konzept leuchte ein: Wer eine Frage hat, stellt diese normalerweise den Bekannten – oder unbekannten Fachleuten. Genau dies tue man bei Quora: Man stellt Fragen. Die anderen Benutzer können diese beantworten – die Freunde genauso wie Leute, die über die Themensuche darauf gestossen sind. Bestehende Antworten lassen sich zudem bewerten. Und sie können sogar von anderen Nutzern ergänzt werden. So gesehen sei Quora eine Kreuzung aus einem Frageportal, der
Wikipedia und einem sozialen Netzwerk à la Twitter. «Vielleicht entsteht daraus ein neuartiges Wissensportal.»

Sie schaut noch immer skeptisch. Dann fordert sie den Webflaneur auf: «Frag doch einfach mal, was dieser Quora-Quatsch soll.» Das tue er wohlweislich nicht, antwortet er leicht gereizt. Zum einen müssten sämtliche Fragen in korrekter englischer Sprache gestellt werden. Ansonsten reagiere die Community. Die bisherigen Fragen seien denn auch auf einem hohen Niveau. Und die Antworten darauf auch, beteiligten sich doch viele Spezialisten – im Moment noch vorab aus dem Internetgeschäft – am Frage- und Antwortspiel. «Buben am Spielen», sagt sie schnippisch. Da reisst dem Webflaneur der Geduldsfaden. «Noch Fragen?», will er harsch wissen. «Nein», sagt sie. Und er: «Dann stehts ausser Frage: Quora ist nichts für dich.»

Freunde zweiten Grades

Webflaneur am Dienstag den 11. Januar 2011

Der Webflaneur ist im Clinch: Fast täglich kriegt er auf Facebook Freundschaftsanfragen – von Leuten, die er höchstens dem Kollegenkreis zurechnet. Er bestätigt die Anfragen jeweils. Denn wiese er sie zurück, könnte dies den betreffenden Personen in den falschen Hals geraten. Bei jedem solchen Klick redet er sich ein, dass Facebook halt etwas anderes unter einem Freund verstehe als er in seinem spiessbürgerlichen Leben.

Macht der Webflaneur Kollegen oder sogar ferne Bekannte zu Facebook-Freunden, rücken diese merklich näher: Sie sehen genau, was er täglich auf der Plattform treibt. Klar, der Webflaneur könnte auf Status-Updates verzichten. Und er könnte keine Fotos mehr veröffentlichen. Alles geheim halten und nur zugucken – das tun schliesslich auch viele seiner sogenannten Freunde. Doch dies sei nun wirklich nicht der Sinn eines sozialen Netzwerks, sagt sich der Webflaneur.

Er sucht nach einer Lösung, bei der er niemanden verletzt – und trotzdem nur jenen Leuten aus seinem Privatleben erzählt, die das auch hören sollen. Seine Lösung ist einfach: Er kreiert die Liste «Ferner sind befreundet». Dieser ordnet er jene Leute zu, mit denen er im Grunde genommen nicht viel teilt. Er degradiert diese also zu Freunden zweiten Grades – oder in gut schweizerischer Terminologie: zu Kollegen. Wer in dieser Liste aufgeführt ist, soll in Zukunft keine Status-Updates mehr zu sehen bekommen, und das Fotoalbum schon gar nicht. Deshalb wählt der Webflaneur nun in der Facebook-Kontoverwaltung den Menüpunkt Privatsphäreneinstellungen. Unter «Benutzerdefiniert» kappt er den Infostrom für die Leute auf der Liste «Ferner sind befreundet».

Der Webflaneur ist überzeugt: Viele «Freunde» bemerken solche Deklassierungen nicht einmal. Es sei denn, man schreibt darüber gleich eine Kolumne.

Ein Blumenkübel geht um die Welt

Webflaneur am Dienstag den 10. August 2010

Nein, der Webflaneur hat nichts Lustiges gesagt. Sein Satz war weder überraschend noch zweideutig. Trotzdem prustete die Runde los, wie auf Kommando. Der Webflaneur begreift erst nach und nach: Es war das eine Wort. Er hätte es nicht benutzen dürfen, nicht hier, nicht heute. Das Wort war: Blumenkübel.

Bis er das begriff, brauchte es einige Erklärungen. Diese kamen vom Kollegen vis-à-vis: Als die Lachwelle verebbt war, fragte er den ganz perplexen Webflaneur: «Hast du die Sache mit dem Blumenkübel auf Twitter nicht mitbekommen?» – «Welcher Kübel?», fragte dieser. Er habe sich in den zwei letzten Tagen abgeschottet, die Arbeit habe gedrängt. Dann brauche er ein Update, sagte der Kollege.

Also: Vor einem Altersheim in Neuenkirchen in Deutschland sei in der Nacht – wohl bei einem Saubannerzug – ein Blumentopf in die Brüche gegangen. Eine Praktikantin der «Münsterschen Zeitung» habe eine Meldung dazu verfasst. Tags darauf sei plötzlich der #Blumenkübel-Sturm durch Twitter gefegt: Die Kunde vom Kübel verbreite sich rasant. Bald schon in abenteuerlichen Variationen: Eine Beteiligung der Al-Qaida könne nicht ausgeschlossen werden, habe einer geschrieben. BP habe das Ölleck mit einem Blumenkübel abgedichtet, habe ein anderer kolportiert. Und ein weiterer habe SPD-Chef Brandt zitiert: «Jetzt muss zusammenwachsen, was zusammengehört.» Bald darauf seien auf Youtube die ersten Videos aufgetaucht: eine dramatisierte Blumenkübel-Lesung etwa, ein «Bekennervideo» der Vandalen und – wie seit dem «Maschendrahtzaun» und «Coup de Boule» üblich – gleich ein Lied dazu. «Das alles hast du in zwei Tagen Netzabstinenz verpasst!»

«Henusode», sagt der Webflaneur. Nun müsse er aber gehen. Er wolle wirklich noch in seinen Terrassengarten – ja, wegen des umgefallen Kübels. Zum Abschied sagt er mit theatralisch erhobenem Zeigefinger: «Wenn ihr mich das nächste Mal so auslacht, dann vertopfe ich euch.»

Turbulente Nullerjahre

Webflaneur am Freitag den 1. Januar 2010

Irgendwer hämmert wie wild in seinem Kopf. Der Webflaneur sinkt ermattet aufs Sofa, schliesst die Augen, massiert die Schläfen. Und er lässt die wilde Zeit der Zweinuller-Jahre Revue passieren.

Er erinnert sich, wie gespannt er vor zehn Jahren auf den letzten Glockenschlag gewartet hat. Gehen die Lichter aus? Bricht das Telefonnetz zusammen? Bleiben die Züge stehen? Doch nichts passierte. Der Jahrtausendkäfer war bereits ausgerottet worden. Oder er war ein Phantom. Die Informatikwelt drehte sich weiter – und immer schneller. Die Zukunft war das Internet. Idee um Idee wurde ausgeheckt. Für fast alles fanden sich Investoren. Die Börsianer jubilierten. Sogar der Webflaneur liess sich zum ersten Aktienkauf hinreissen. Dann platzte die Blase. Nur wenige Unternehmen sind geblieben. Eines davon ist Google, das einen guten Suchalgorithmus mit einer gewieften Werbeverbreitung koppelte, damit die anderen Suchmaschinen vergessen machte und zur dominierenden Internetfirma wurde. Ehe sie sich versah, ging es auch der Musikindustrie an den Kragen. Der Kampf gegen die Tauschbörse Napster nützte da wenig. Erst der Erfolg von Apples iTunes brachte die Musikindustrie auf bessere Ideen. Und plötzlich gings Schlag auf Schlag. Der Erfolg des Mitmachlexikons Wikipedia nötigte altehrwürdige Verlage zur Aufgabe. Die nutzergenerierten Inhalte setzten sich durch, der Ausdruck Web 2.0 machte die Runde. Wer im Netz etwas auf sich hielt, war am Bloggen oder tummelte sich auf Plattformen herum: auf Myspace etwa, Youtube, Facebook, Xing, Twitter und wie sie alle heissen. Immer stärker und immer schneller durchdrang das Internet das ganze Leben.

Vor dem geistigen Auge des Webflaneurs beginnt sich alles zu drehen. So viel in so kurzer Zeit. Kein Wunder, kriegt man davon einen Kater. Doch wie lautet die alte Säuferweisheit? Kater bekämpfe man am besten mit mehr vom gleichen? Der Webflaneur rappelt sich auf. Und er setzt sich an den Computer.

Schenken 2.0

Webflaneur am Dienstag den 8. Dezember 2009

Es begab sich jeweils zur Adventszeit, dass an der Schule über alle Klassen- und Promotionsgrenzen hinweg gewichtelt wurde. Der Webflaneur erinnert sich gut an einige fantasievolle, auf Treppenstufen drapierte Präsente. Das Treppenhaus, wo alle durchmussten, war der ideale Umschlagplatz für Geschenke. Und Treppensteigen war nie spannender als in den paar Wochen vor Weihnachten: Wer bekommt diese handgezogene Kerze? Wer trägt heute die Büchse mit den Güezi mit sich herum? Und steckt hinter dem Päckli mit der liebevoll verzierten Karte nicht vielleicht doch mehr als bloss das Geschenk eines Wichtels? Tritt für Tritt galt es zu lesen, für wen das Präsent bestimmt war. Tritt für Tritt rätselte man, wer der Wichtel sein könnte. Und Tritt für Tritt verglich man insgeheim die fremden mit den eigenen Präsenten.

Daran erinnert sich der Webflaneur, als er auf der Mikroblogplattform Twitter über die jüngste Aktion stolpert: Die Nutzerinnen und Nutzer sind am Wichteln – beziehungsweise am Twichteln, wie sie es nennen. Sie haben sich auf Twichteln.ch angemeldet und jemanden zugewiesen erhalten, den oder die sie zu beschenken haben. Natürlich nicht mit Materiellem wie Kerzen, Güezi und Schokolade. Das Twichtel-Motto heisst: Freude machen in 140 Zeichen. Oder: Schenken 2.0. Entsprechend werden vorab Weblinks verschickt: zu einem lustigen Video etwa, einem leckeren Rezept, einem spannenden Artikel, einem schönen Foto. 250 Leute haben bei der ersten Runde mitgemacht. Heute beginnt die zweite. Und wer nächste Woche twichteln will, kann sich bis Sonntag einschreiben.

Der Webflaneur füttert die Twittersuche mit #twichtelnCH. Er schaut, was andere geschenkt erhalten haben und wer vom Twichtel enttäuscht worden ist. Und das ist fast so spannend wie früher der Gang durchs Treppenhaus seiner Schule.