Auf der Bank liegen Bücher. Der Webflaneur setzt sich hin und nimmt eines. Das Buch sei nicht etwa vergessen gegangen, liest er auf der Etikette. Es sei nicht billig «entsorgt» worden, und man solle es auch jetzt, da es da liege, nicht wegwerfen. Das Buch sei bewusst freigelassen worden. Wer es finde, dürfe es mitnehmen. Und wer mehr wissen wolle, schaue bei Bookcrossing.com vorbei.
Der Webflaneur kramt einen kleinen Band mit Erläuterungen zu «La grande peur dans la montagne» aus dem Stapel hervor und packt ihn ein – in memoriam Ramuz’ Werk, das mit fast seiner gesamten Bibliothek vor einem Jahr ertrunken ist. Wieder zuhause startet er den Rechner, surft auf die besagte Website und erfährt: Es war Dipladenia, die – oder der? – die Bücher bei der Tramhaltestelle auf der Bank deponiert hat. Bei Bookcrossers.ch liest er, wie der Tausch funktioniert: Wer ein Buch aus der Enge des Regals in die Freiheit entlassen will, registriert es online. Dabei erhält es eine «Bookcrossing-Identifikationsnummer». Diese wird auf dem Umschlag notiert. Dann wird das Buch ausgesetzt: im Wartezimmer des Arztes etwa, in einem Café oder eben an einer Tramhaltestelle. Wer das Buch findet, darf es mitnehmen. Registriert die Finderin oder der Finder den Fund auf der Website, können ehemalige Besitzer den Weg «ihres» Buches verfolgen. Und der Finder kann mit seinen «Vorlesern» darüber diskutieren. Über 500000 Leserinnen und Leser machten beim unkonventionellen Büchertausch mit, liest der Webflaneur.
Einige Wochen darauf: «Zibele» lädt per E-Mail zum Büchertausch in eine Bar. Der Webflaneur kennt weder sie noch die anderen, die sich eingeschrieben haben. Und er hat seit Jahren keinen Roman mehr gelesen; seit er es mit den «Elementarteilchen» versucht hat, lebt er im literarischen Zölibat. Er geht trotzdem hin. Denn jetzt, da wieder nach Frankfurt pilgert, wer in Sachen Literatur etwas auf sich hält, glaubt auch er mitreden können zu müssen. Auf dem Tischchen in der Bar stapeln sich die Bücher. Die Bookcrosser plaudern, diskutieren und tauschen, einen ganzen Abend lang. Was sie ihm, dem Abstinenten, empfehle, fragt der Webflaneur. Henning Mankell, antwortet «Zibele» ohne zu zögern und zieht zwei Wallander-Bände aus dem Stapel hervor. Diese stehen nun im Bücherregal des Webflaneurs – dem realen wie dem virtuellen. Das virtuelle gedenkt er in Zukunft weiter zu füllen. Nicht aber das reale: Auch der Webflaneur verschenkt nun seine gelesenen Bücher, das erste heute um 11 Uhr im Entrée der Jugendherberge in Bern. Dieses Buch hat den Webflaneur vor Jahren auf eine Amerika-Reise begleitet, trägt eine Widmung, ist von Jack Kerouac und heisst «Unterwegs».
Anhang: Das freigelassene Audiobuch.
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