«Momentan sind wir in der Ruhe-vor-dem-Sturm-Phase»
Wie erleben Sie aktuell Ihre Patienten?
So wie es die unterschiedlichsten Charaktere gibt, so erlebe ich auch die verschiedensten Emotionen. Alte Menschen sind oft pragmatisch und sagen: «Ich hatte ein gutes Leben. Falls es jetzt fertig ist, dann kann ich das akzeptieren.» Jüngeren muss ich schon mal eindringlich erklären, wie lebenswichtig es ist, die verfügten Massnahmen einzuhalten. Die meisten meiner Patientinnen und Patienten reagieren einsichtig, aber natürlich weiss ich nicht, wie sie diese Einsicht in der Realität umsetzen. Und dann gibt es diejenigen, die überängstlich und beinahe panisch sind. Diese versuche ich zu beruhigen und therapeutisch zu begleiten.
Das tönt einfühlsam. Aber wie schaffen Sie eine solche Betreuung Ihrer Patienten rein zeitlich?
Neben meiner Arbeit in der Praxis setze ich vor allem auf einen regelmässigen telefonischen Kontakt. Ich kenne ja meine Patienten, und weiss darum auch, welche in solch herausfordernden Zeiten wie jetzt stärker unter Ängsten leiden. Ich versuche sie zu begleiten, indem ich beispielsweise jeden Tag mit ihnen telefoniere. Sie erzählen mir dann, wie es ihnen geht, welche Symptome sie haben und was sie beschäftigt. Das kann eine gewisse Struktur im Alltag geben. Und Strukturen geben bekanntlich Halt.
Wie sieht das konkret aus?
Einer meiner Patienten arbeitete mit einer Kollegin, die mit dem Coronavirus infiziert ist. Jetzt ist er im Homeoffice und hat einen Schnupfen, aber kein Fieber. Er ist verheiratet und Vater eines kleinen Buben und zurzeit fast panisch, dass er sich angesteckt hat. Was mit seinen Symptomen eher unwahrscheinlich ist. Wir telefonieren also regelmässig, und er erzählt mir, wie es ihm geht. Das beruhigt ihn, und ich weiss, wie sich sein Infekt weiterentwickelt.
Ist es denn möglich, während eines Telefongesprächs eine Ferndiagnose zu stellen?
Natürlich kann ich keine konkrete Corona-Diagnose stellen. Wenn ich der Ansicht bin, dass das nötig ist, bestelle ich den Betreffenden in die Praxis zum Test. Aber aufgrund meiner langjährigen Erfahrung kann ich anhand der geschilderten Symptome, der Stimme und dem «Schnuuf» eines Patienten eine erste Diagnose stellen.
«Wichtig ist es, in Balance zu bleiben, sich Schönes zu gönnen.»
Mal ganz ehrlich: Nerven gewisse Patienten Sie nicht manchmal etwas, wenn diese überreagieren oder uneinsichtig gegenüber Tatsachen sind?
Nein, ich habe meine Patienten gern. Und ein paar brauchen halt etwas mehr Unterstützung oder Überzeugungsarbeit. So wie kürzlich ein älterer Mann, der mir erzählte, dass er draussen böse Blicke ernte, wenn er mit seinen Enkeln spiele. Ich habe ihm eindringlich erklärt, warum er das nicht mehr tun sollte, weil er nicht nur sich selbst, sondern auch andere gefährde. Und er hat es eingesehen.
Was empfinden Sie momentan als Ihre grösste berufliche Herausforderung?
Dass ich den Menschen klarmachen muss, wie ernst die jetzige Situation ist, und dass sie noch ernster werden wird. Momentan sind wir quasi in der Ruhe-vor-dem-Sturm-Phase – den Höhepunkt der Corona-Krise haben wir noch nicht erreicht. Es wird noch schlimmer werden, bevor es wieder besser werden kann. Und damit diese Wende, wann immer, erreicht werden kann, kommt es auf jeden von uns an.
Viele alleinstehende Menschen – egal ob jung oder alt – haben Angst, in der Quarantäne zu vereinsamen. Hören Sie dies auch von Ihren Patienten?
Ja, immer wieder. Grosseltern leiden, weil sie ihre Familie nicht sehen dürfen. Aber auch Singles, die sich gewohnt sind, ihren Freundeskreis regelmässig zu sehen und Dinge gemeinsam zu unternehmen, leiden. Wichtig ist es, in Balance zu bleiben, sich Schönes zu gönnen. Einen guten Znacht, einen spannenden Film oder auch beruhigende Tätigkeiten wie Meditieren oder Yoga. Aber es gibt zum Glück ja heute viele Möglichkeiten, um über die sozialen Medien in Kontakt zu bleiben. Und das ist sehr wichtig, damit einem die Decke bildlich nicht auf den Kopf fällt. Glücklicherweise gibt es momentan viele kreative, neue Möglichkeiten, mit denen wir uns nahe sein können, ohne dass wir uns zu nah kommen.
Und wie kommen Sie in Ihrer Freizeit wieder zu neuen Kräften?
Ich bin ein ausgeglichener Mensch, aber ich brauche natürlich zu Hause ein gewisses Mass an Ruhe. Was mit sechs Kindern nicht immer ganz einfach ist. Meine Familie gibt mir Kraft. Nach der Arbeit lese ich Zeitung, spiele Klavier und lese hin und wieder ein Buch. Oder, wir sehen uns zusammen einen Film an. Und ich werde diese Woche sicher längere Sommerferien machen, oder vielleicht doch lieber Herbstferien planen.
4 Kommentare zu ««Momentan sind wir in der Ruhe-vor-dem-Sturm-Phase»»
„Ruhe vor dem Sturm„ Rainer Hurni gibt uns Zuversicht, dass wir den Sturm meistern können. Bereiten wir uns auf das Schlimmste vor und seien wir froh, dass wir solche Mediziner zur Seite haben.
„Einer meiner Patienten arbeitete mit einer Kollegin, die mit dem Coronavirus infiziert ist. Jetzt ist er im Homeoffice und hat einen Schnupfen, aber kein Fieber. Er ist verheiratet und Vater eines kleinen Buben und zurzeit fast panisch, dass er sich angesteckt hat.“ – Weshalb ist er „fast panisch“? Weil er festgestellt hat, dass die Gefahr, dass ihm etwas passiert, fast bei Null steht? Weil er weiss, dass seinem Kind keine Gefahr droht? Oder ist er immunsupprimiert, und es steht nicht hier? Die ganze Hysterie richtet mehr Schaden als als das Virus. Leute! Schaut auch die Statistiken an! Aber die genauen, bitte! Und achtet darauf, WER an diesem Ding stirbt. WER! Und wie krank der schon vorher war!
Gestern im 10vor10 wurde eine junge gesunde Frau vorgestellt, welche in nach einen Italienbesuch etwas Schnupfen und Halsweh hatte (so wenig, dass sie normalerweise trotzdem gearbeitet hätte). Einen Tag später ging es ihr so schlecht, dass sie für vier Tage ins Spital musste, welchess noch genügend Mitarbeitende, Material und Betten hatte. Nach zwei wochen Quaräntäne zuhause geht es ihr wieder gut. Ob dies auch der Fall währe, wenn sie wegen überfüllung nicht mehr im Spital behandelt worden währe, weiss ich nicht.
Danke für Ihren Artikel
Endlich einmal nicht nur Panikmache, sondern eine humanistische Darstellung der Situation wie sie ist.
Ein Glück gibt es Menschen wie Herrn Hurni.
Ich glaub ihm wenn er sagt, er mag seine Patienten.
In Zeiten der Sensationssüchtigen Berichterstattung und der Fakenews tut
es gut mal wieder einen seriösen Artikel zu lesen.
Ich wünsche uns allen dass wir so gut wie möglich aus dieser Krise auferstehen und daraus lernen.