«Im Winter ist es einfacher, traurig zu sein»

Auch das schönste Sommerwetter schützt nicht vor trüben Gedanken. Foto: iStock

Letzte Woche sagte mir eine langjährige gute Kollegin am Telefon, dass sie nicht an mein Geburtstagsfest kommen könne, da ihr Brustkrebs wieder ausgebrochen sei. Sie habe mit sich gerungen, mir dies mitzuteilen, denn sie wolle mir meinen Abend «nicht verderben». Für ein paar Sekunden war ich sprachlos. Nicht verderben? Was ist schon eine Geburtstagsfeier gegen eine solch niederschmetternde Diagnose? Doch sie sagte nur: «Es tönt zwar seltsam, aber im Winter wäre mir diese Absage leichter gefallen. Ich weiss doch, wie sehr du dich auf dieses Fest freust. Und schliesslich will ich keine Spielverderberin sein.»

Keine Spielverderberin sein? Nach dem Gespräch ging mir dieser Satz nicht mehr aus dem Sinn. Bedeutete er ja nichts anderes, als dass es in dieser von so vielen Menschen ersehnten Sommer- und Ferienzeit keinen Platz für Schicksalsschläge haben darf. Denn der Wunsch, abzuschalten und all das nachzuholen, wofür im Alltag immer zu wenig Zeit ist, ist riesig. Und so wird diese Lebenfreude demonstrativ auf den sozialen Kanälen geteilt.

Manchmal scheint es mir, als wäre der Sommer eine einzige Grillparty. Anders kann ich mir die fröhlichen Gesichter, die mir auf Instagram und Facebook pausenlos entgegegenstrahlen, nicht erklären. Eigene Ängste, Sorgen oder Krankheiten wollen verständlicherweise die wenigsten von uns auf diesem Weg teilen. Aber Depressionen sind kein Herbst- oder Winterthema; dass gerade Badiwetter ist, hat noch nie jemanden davon abgehalten, unglücklich zu sein.

Die schönen Tage müssen doch genutzt werden

Im Gegenteil: Gerade das gleissende Licht, die Hitze und die Tatsache, dass es fast unmöglich scheint, sich bei einer Krise in die eigenen vier Wände zurückzuziehen, machen es zusätzlich schwierig, wenn es einem nicht gut geht. Und wer hat in dieser Situation Lust, sich zu erklären, wenn man gefragt wird: «Warum kommst du nicht mit zum Schwimmen, zum Apéro oder ans Open Air?» Als mein erster Freund kurz vor der Matur an einer Psychose erkrankte und daraufhin die Schule für eine Therapie verlassen musste, erklärte er mir: «Im Winter ist es einfacher, traurig zu sein. Aber wenn die Sonne lacht, dann wird das auch von dir erwartet.»

Damals hatte ich Mühe, seine Worte zu begreifen, weil ich mit meinen 18 Jahren mit dieser Situation völlig überfordert war. Heute weiss ich: Wer im Sommer eine schwere Zeit hat, setzt sich vielleicht mehr unter Druck als zu anderen Jahreszeiten. Schliesslich sollten doch die schönen Tage genutzt werden.

Das Schicksal macht keine Ferien

Als mein Vater und meine Mutter innert weniger Jahre jeweils im Sommer verstarben, erfuhr ich viel Verständnis und Mitgefühl. Aber ich merkte auch, dass viele meiner Bekannten und Kollegen mit anderen Dingen beschäftigt waren und dass meine Trauer nicht wirklich in ihr momentanes Lebensgefühl zu passen schien. Das war kein Problem für mich, da ich in meinem engsten Umfeld gut aufgehoben war. Als wir meine Eltern jeweils an einem heissen Junitag bei Bilderbuchwetter zu Grabe trugen, fühlte ich mich wie im falschen Film.

Inzwischen geniesse ich den Sommer wieder, aber der Juni fühlt sich nie mehr so an wie früher. Und es ist mir bewusst: Auch wenn sich das Leben in diesen Tagen leicht und verheissungsvoll anfühlt, das Schicksal macht keine Ferien.

5 Kommentare zu ««Im Winter ist es einfacher, traurig zu sein»»

  • S. Berger sagt:

    Es ist wahr: im Sommer ist es deprimierender, sich nicht glücklich zu fühlen. Die Sonne, die Freude in der Luft, die Parks, die Pools, all dies lässt das Herz noch mehr leiden. Es ist, als würden sich zwei Extreme treffen.

  • maia sagt:

    Dei Erklärung zu den fröhlichen Gesichtern ist ganz einfach: sie sind nicht echt. Das reale Leben findet in der REALITÄT und nicht auf SocialMedia ab.

  • Linus Huber sagt:

    „Anders kann ich mir die fröhlichen Gesichter, die mir auf Instagram und Facebook pausenlos entgegegenstrahlen, nicht erklären.“

    Es dürfte sich oft um sehr oberflächliches Wohlbefinden handeln, welches auf diesen Medienplattformen demonstrativ zu Schau gestellt wird. Das eine oder andere Ereignis wird wohl künstlich kreiert worden sein, einzig mit der Absicht, ein Foto auf Instagram und Facebook platzieren zu können. Wahres Wohlbefinden muss man nicht publizieren, sondern geniesst es mit seinen nächsten Mitmenschen.

  • Sonusfaber sagt:

    Meinem Empfinden nach leben wir in einer „Spassgesellschaft“ und damit meine ich eine Gesellschaft, die alles Unschöne fernzuhalten versucht: eben durch Spass, Ablenkung, Unterhaltung und dergleichen – wodurch einem seine Authentizität abhandenkommt. Denn wer alles Unschöne fernzuhalten versucht, muss sich früher oder später von sich selbst abspalten – und spätestens ab diesem Augenblick macht es keinen richtigen Spass mehr zu leben. Was viele vergessen: Nicht der Spassvogel geniesst das Leben, sondern der, der es ernst nimmt …

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