«Ciao, Bella»

Attraktivität kommt in allen Facetten daher. Und manchmal entdeckt man sie auch erst auf den zweiten Blick. Foto: pxhere
Es gibt Menschen, die schaue ich unglaublich gern an. Sie strahlen für mich eine besondere Faszination aus. Meistens sind es nicht jene mit den klassischen Attributen, wie den ellenlangen, gebräunten Beinen, dem wohlgeformten Bizeps oder dem perfekten Hollywood-Gebiss. Natürlich betrachte ich gern attraktive Menschen, genauso wie mich auch andere «Kunstwerke» faszinieren. Aber am interessantesten sind vor allem die ganz individuellen, charmanten Unvollkommenheiten, die es nach dem ersten Blick zu erkennen gilt.
Es können die unzähligen Sommersprossen sein, die wohlgeformte Schultern zieren. Die von der Sonne gebleichten Härchen auf gebräunten Unterarmen oder auch nur die losen Haarsträhnen, die sich aus einem sonst so perfekten Haar-Dutt gelöst haben. Es ist eben nicht die uns täglich in den sozialen Medien präsentierte Perfektion, die fasziniert, sondern das freche, schiefe Lächeln, die auffällige Zahnlücke oder die prägnante Nase, die zu sagen scheint: «Seht her, ich habe allen Schönheits-OPs getrotzt!»
Schönheit hat viele Facetten. Dies ist keine neue Weisheit. Aber während der letzten Sommerwochen waren viele Menschen offener und zwangloser unterwegs als sonst. So konnte ich meine Blicke kaum von einer üppigen Marktfrau lösen, die ihre Früchte und ihr Gemüse mit so anmutigen Bewegungen anpries – wie eine Ballerina.
Der Zauber des Augenblicks
Ein ähnliches Charisma strahlte ein alter Herr aus, der um die Mittagszeit bei glühender Hitze neben mir im Park sass. Während mir der Schweiss in Strömen herunterlief und ich quasi mit der Parkbank verschmolz, sass er in seinem hellgrauen Leinenanzug und blütenweissen Hemd aufrecht da. Ich konnte nicht anders, ich musste sein markantes Profil bewundern. Er schien meinen aufmerksamen Blick bemerkt zu haben, wandte sich mir zu, und während er mir zulächelte, bildeten sich unzählige kleine Lachfältchen wie Spinnennetze um seine Augen. Wie so oft in solchen Situationen fehlte mir der Mut, ihn anzusprechen. Da spielt es keine Rolle, ob man 15, 55 oder 85 ist. Der alte Mann schien allerdings keine Lust auf einen Schwatz zu haben, sondern stand auf, verneigte sich fast unmerklich in meine Richtung, und sagte: «Ciao, Bella.» Mein Herz machte einen kleinen Sprung.
Ich habe mich in den letzten Wochen oft gefragt, worin der besondere Zauber eines solchen Augenblicks liegt. Ja, es braucht eine gewisse Offenheit – sei es die innerliche Bereitschaft, sich auf dieses Spiel einzulassen, aber auch eine ganz spezielle Aufmerksamkeit, die in unserem stressigen Alltag oft gar nicht möglich ist, weil unser Blick auf viele andere Dinge gerichtet ist.
Dieser Sommer ist hoffentlich noch lange nicht zu Ende. Und vielleicht haben auch Sie die Zeit und Musse, neben den offensichtlichen Schönheiten, auch jene zu entdecken, die erst auf den zweiten oder dritten Blick sichtbar werden.
8 Kommentare zu ««Ciao, Bella»»
Diese Kolumne zu lesen, ist wie ein Dessert zu geniessen!
Vielen lieben Dank.
Eine person welche regelmässige Züge hat und was warmes und freundliches ausstrahlt ist mir schon lieber als eine sogenannte kalte Schönheit. Es gibt sie auch die freundlichen Schönheiten aber weniger ! Ein offener Geist ist mir auch wichtig.
Ihre Kolumnen lese ich grundsätzlich sehr gerne – Dankeschön – und ja, Austausch tut gut – mit allen Menschen jeden Alters, aus allen Kulturen und Schichten – das bereichert und schafft mit der Zeit eine grössere Offenheit und Erweiterung des Horizonts. Einfach anfangen.
Sie müssen einmal nach Amerika für ein zwei Wochen, dann werden sie automatisch offener. Es braucht so wenig, einen Menschen anzusprechen, und es ist ein schönes Gefühl. Wenn ich im Sommer während meiner Mittagspause auf einer Bank sitze mache ich oft eine kleine Bemerkung an meine/n unbekannten Sitznachbar/in, oder auch nur ein „schöner Nachmittag“ wenn ich gehe. Die Rückmeldungen sind zu 100% positiv, und ein Lächeln krieg ich immer ;-).
Das war halt ein Gentleman der alten Schule ! Das Anschauen – und nicht Anstarren – ist heute aber leider zu einem heiklen Thema geworden. Männer fühlen sich eher bestätigt wenn sie bemmerken, von einer Frau länger als einen flüchtigen Augenblich angesehen zu werden. Wenn ich mir aber als Mann eine Frau über – deren – Gebühr ansehe, kann mann leicht in unangenehme Situationen geraten.
Es gibt dazu einen netten Spruch: Schaut man nicht hin ist man verklemmt, schaut man hin ist man ein Lüstling.
Schauen und Starren sind eben zwei unterschiedliche Angelegenheiten. Ich bin sicher sie, Michael, kennen den Unterschied.
Echte Schönheit entsteht durch eine Verbindung von Körper und Geist.
Reine körperliche Schönheit ist sehr oberflächlich und wird oft durch einen gesprochenen Satz vernichtet. Für mich ist es der Mix aus Körper, Geist, Mimik, Gestik und Konversation.
Danke Silvia für diesen Beitrag.
Wie fast immer von Dir, ein lesenswerter Beitrag mit Denk- Anstoss.
mfg Alter Hase