Best of: Ein Leiden namens Einsamkeit

Die Autorin ist in den Ferien. Deshalb publizieren wir dieses Posting aus den vergangenen Monaten, das besonders viel zu reden gab. Es erschien erstmals am 10. März 2018. Von Kopf bis Fuss Beruflich erfolgreich, privat einsam: Joaquin Phoenix im Film «Her». Foto: PD

Mit der Einsamkeit ist das so eine Sache.

Wenige Menschen würden wohl, wenn man sie fragt, ehrlich zugeben, dass sie sich allein fühlen. Und gemeint ist nicht das punktuelle Alleinsein, das wir durchaus geniessen, weil wir dann endlich mal Zeit für uns haben. Diese Form des Alleinseins beinhaltet ja, dass unsere Lieben (etwa am Abend) zurückkommen.

Müssten wir ein Bild eines einsamen Menschen zeichnen, dann wäre das für viele ein alter Mensch im Heim, der sehnlichst auf Besuch wartet, der nie kommt. Dieses Bild ist zwar nicht falsch, aber es zeigt nur einen Teil der Realität. Aktuelle Zahlen aus Grossbritannien und Frankreich belegen, dass allein in diesen zwei Ländern nahezu 20 Millionen Menschen angeben, dass sie sich häufig oder ständig allein fühlen. Besonders betroffen sind junge Mütter, Geschiedene und über 60-jährige Menschen. Und dies in allen sozialen Schichten.

Ein gesellschaftliches Tabu

Auch althergebrachte Klischees stimmen nicht unbedingt: Nicht jeder Single ist einsam, und nicht alle gebundenen Menschen sind geborgen. Denn Alleinstehende können sich in einem Freundeskreis aufgehoben fühlen, während eine Partnerschaft kein Garant ist, dass man sich nicht allein fühlt.

Einsam zu sein, ist eines der letzten gesellschaftlichen Tabus. Denn welcher aktive und/oder beruflich erfolgreiche Mensch gibt zu, dass er trotz aller Beschäftigungen eine quälende innerliche Leere fühlt? Schliesslich sind wir ja vernetzt und online, und wir haben Dutzende von «Freunde» auf Facebook.

Darauf, dass grassierende Einsamkeit nicht nur ein persönliches, sondern ein gesellschaftliches Problem ist, hat man in Grossbritannien jetzt reagiert. 9 von 66 Millionen Briten fühlen sich häufig einsam. Staatssekretärin Tracey Crouch ist für Sport und Zivilgesellschaft zuständig und wird auch bald Ministerin für Einsamkeit. Sie sei stolz, ein Problem anzugehen, das «eine generationenübergreifende Herausforderung» darstelle, sagte Crouch.

Psychische und körperliche Folgen

Einsamkeitsgefühle können zu Depressionen, Angstkrankheiten oder Zwängen führen. Neu ist die Erkenntnis, dass auch körperliche Leiden wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Demenz die Folge sein können, schreibt der Psychiater Manfred Spitzer in seinem Buch «Einsamkeit – die unerkannte Krankheit».

Wissenschaftlich untersucht werden in diesem Zusammenhang auch:

  • Die Schwächung des Immunsystems: Bei einer Untersuchung unter US-Studenten zeigte sich, dass jene, die sich selber als «einsam» bezeichneten, weniger Antikörper bildeten. Durch die geschwächte Abwehrkraft steigt das Risiko, an Infekten zu erkranken.
  • Kreislaufprobleme: Einsamkeit belastet unser Herz. Angstzustände können zu vermehrter Ausschüttung von Cortisol führen. In der Folge kann der Blutdruck steigen. Wenn dieser Zustand chronisch ist, schädigt er das Herz.
  • Schlechter Schlaf: Einsame Menschen schlafen oft lange nicht ein und wachen früher auf, weil sie negative Gedanken und Sorgen wecken. Tagsüber fühlen sie sich oft gerädert.

Die Grenzen zwischen Gefühlen des Alleinseins und der Einsamkeit sind fliessend. Wie schwer sie belasten, ist individuell und auch eine Sache der Erfahrung, wie gut man im Laufe seines Lebens gelernt hat, mit diesen Gefühlen umzugehen. Vor allem junge Leute sollten merken, dass soziale Medien in vielen Fällen keine echten Freunde ersetzen können. Wichtig ist auch, dass man sich Einsamkeitsgefühle eingesteht und sie nicht durch Aktivität oder Kompensationen überdeckt. Und wenn der Druck zu gross wird, sollte man sich nicht scheuen, (professionelle) Hilfe zu suchen.

Den dritten und wohl schwersten Schritt würde ich als Lebensaufgabe bezeichnen. Nämlich anzunehmen, dass es im Leben immer Phasen von Einsamkeit gibt, die man aushalten muss. Oder, wie der grosse Schauspieler und Regisseur Orson Welles sagte: «Wir kommen allein auf die Welt, wir leben allein, wir sterben allein. Nur Liebe und Freundschaft können uns für einen Augenblick die Illusion verschaffen, nicht allein zu sein.»

Ein Kommentar zu «Best of: Ein Leiden namens Einsamkeit»

  • Zora sagt:

    Wichtiges Thema! Gerade mit der heutigen Vereinzelung und Hyper-Individualisierung ein Thema für viele Menschen, gerade auch ältere.
    Den letzten Abschnitt würde ich jedoch so nicht stehen lassen. Bei unserer Geburt ist doch immerhin unsere Mutter dabei, im Leben schliessen wir Freundschaften (haben es also ein Stück weit in der Hand); und wenn diese Freunde & Familie da sind, sterben wir wohl hoffentlich auch nicht einsam.
    Was trotz allem immer wieder mal auftauchen kann, ist so etwas wie eine existenzielle Einsamkeit – wie ein dunkles Tal, das man durchschreitet, und wieder das Helle sieht, vielleicht als noch heller und farbiger erlebt als vorher. Hier ist Selbstwahrnehmung und Selbstverantwortung sowie ein Bewusstsein dieser Prozesse gefragt.
    Doch wo lernt man das?

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