Demenz – Abschied ohne Wiederkehr
Dass etwas mit ihm nicht stimmte, wusste ich in dem Moment, als er an einem verschneiten Wintermittag im Januar auf dem Sechseläutenplatz in Zürich stand. Wie immer am ersten Freitag im Monat trafen wir uns zu einem gemeinsamen Mittagessen.
Er trug seinen eleganten Fischgrat-Wollmantel. Darunter, wie immer, Anzug und Krawatte. Auf dem Kopf den obligaten Hut und um den Hals seinen gestreiften Wollschal. Aber statt in seinen Winterschuhen steckten seine Füsse – in Finken. Als ich ihn auf die Schuhe aufmerksam machte – ich tat es nebenbei, denn ich wollte ihn nicht in Verlegenheit bringen –, zuckte er nur mit den Schultern und sagte lachend: «Ich werde eben alt.»
Ein 83-jähriges Kind
Drei Jahre später war mein Vater, ein ehemaliger Chemieprofessor, der fast jede Woche ein Buch las, über ein fotografisches Gedächtnis verfügte und stundenlang klassische Musik hörte (und wenn niemand hinschaute auch gleich das Orchester dirigierte), zum Kind geworden. Ein 83-jähriges, das nach Streicheleinheiten verlangte, aber genauso schnell aggressiv werden konnte. Mein Vater, der nie in seinem ganzen Leben die Hand gegen mich erhoben hatte, schlug mich, ohne Vorwarnung und ohne ersichtlichen Grund, ins Gesicht. Und entschuldigte sich zehn Sekunden später mit entsetzter Miene bei seiner Frau.

Mit «Unter Tränen gelacht: Mein Vater, die Demenz und ich» hat die Autorin Bettina Tietjen ein bewegendes Buch geschrieben. (Foto: privat/Piper-Verlag)
Seine Frau, das war jetzt ich. Als jüngste Tochter hatte ich die Rolle meiner Mutter übernommen. Denn irgendwann hatte mein Vater beschlossen, dass er seine Frau nicht mehr sehen wollte. Und besuchte sie ihn trotzdem, brüllte er sie an, sie solle sich «zum Teufel» scheren. Meine Eltern hatten über 40 Jahre eine gute Ehe geführt. Mein Vater legte meiner Mutter jahrzehntelang jeden Sonntagabend einen kleinen Liebesbrief aufs Kopfkissen. Warum er sich so verändert hatte? Das wusste niemand, ich denke, nicht mal er. Denn der Verstand war meinem Vater abhandengekommen. Hatte sich auf dem Weg in die Dunkelheit Schritt für Schritt verabschiedet. Bis der einst so brillante Intellektuelle nur noch aus seinen Emotionen schöpfte. Und die konnten von einer Sekunde auf die andere ändern.
Tom und Jerry statt Tschechow
Warum ich das erzähle? Weil ich im Januar besonders intensiv an meinen Vater denken muss. Und daran, wie seine Demenz nicht nur ihn, sondern auch unsere Familie verändert hat.
Allerdings nicht nur im negativen Sinn. Natürlich war es schmerzhaft, ihn zum ersten Mal weinen zu sehen. Dies, nachdem er die Diagnose Demenz erhalten hatte. Oder ihn bei den regelmässigen Besuchen im Pflegeheim nicht mit einer Erzählung von Anton Tschechow in den Händen vorzufinden, sondern seinen starren Blick auf den Bildschirm gerichtet, wo sich Tom und Jerry auf den Deckel gaben.
Versöhnliche Momente
Aber es gab diese seltenen Minuten, in denen er zur Ruhe gefunden hatte und wir auf der Bank im Park sassen, Hand in Hand, vertraut wie ein altes Liebespaar. (Das tönt jetzt etwas seltsam, ich empfand es jedoch nicht so.) Und diese Nähe versöhnte mich mit den vielen Jahren, in denen ich ihn verschlossen und gefühlsarm erlebt hatte. Und jedes Mal, wenn wir kurz getrennt waren, er zum Beispiel aufs WC musste, begrüsste er mich aufs Neue freudenstrahlend. Ich denke, er würde lachen, wenn ich jetzt sagen würde: Das gleiche Verhalten kenne ich von meinen Hunden. Kurz: Es war ein ständiges Wiedersehen und gleichzeitig ein Abschiednehmen.
Ich möchte Ihnen zum Thema Demenz ein Buch empfehlen: «Unter Tränen gelacht: Mein Vater, die Demenz und ich». Die Autorin heisst Bettina Tietjen, und das Buch zeigt auf, was ich, aber auch viele Angehörige von Demenzkranken erleben, nämlich, dass das Leben auch in dunklen Tagen immer wieder lebenswert ist. Und sei es auch nur für wenige Augenblicke.
20 Kommentare zu «Demenz – Abschied ohne Wiederkehr»
Es ist leider höchst Wahrscheinlich, dass wer an Demenz erkrankt, mit grosser Wahrscheinlichkeit in Zukunft nicht mehr selbstverantwortlich handeln kann. Deshalb sollten Erkrannkte bestimmen, wer in der Zukunft für sie entscheiden und handeln soll. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Man kann vorsorgen und mit einem Vorsorgeauftrag und / oder einer Patientenverfügung bestimmen, wer in einem späteren Stadium der Krankheit wie z.B. Demenz oder Alzheimer für einem entscheiden soll. vgl: http://www.rechtsanwalt-scheidung.attorney/erwachsenenschutzrecht-kinderschutzrecht/
Meine Mutter wird im April 106 Jahre alt. Wir leben in meinem Haus und ich pflege sie alleine. Zum Glück kann sie ihre persönlichen Bedürfnisse noch aussprechen. Manchmal weiß sie nicht mehr, dass ich ihre Tochter bin. In letzter Zeit bekomme ich jedoch viele Dankesworte von ihr. Sie sagt oft, danke das du mir hilfst. Das war früher nicht so. Meine Mutter musste als Wirtin und Bäuerin sehr viel arbeiten. Es gibt einen tollen Film über ihre Willenskraft und bescheidenen Leben.
Der Titel , tagaus, tagein
Pflege benötigt ein hohes Maß an Geduld und Selbstlosigkeit. Mein Respekt gilt allen Menschen, welche ihre Angehörigen pflegen,
Maresa
Danke, es war ein sehr intensives, berührendes Erlebnis Ihren Beitrag zu lesen.
Frau Aeschbach, ich bin beeindruckt mit welcher Tiefe Sie in diesem kurzen Text Ihr Erleben so greifbar beschreiben. In wenigen Worten vermögen Sie dem Leser Einblick in die unglaubliche Komplexität der Gefühlswelt zu geben, welche die Demenz mit sich bringt und mit welcher Herausforderung Betroffene sich konfrontiert sehen. Daran nicht zu zerbrechen ist keine Selbstverständlichkeit.
Wegen solchen Dingen habe ich mich von der Kirche abgewendet – was kann das für ein Gott sein, der seinen Geschöpfen sowas auferlegt. Wenn er angeblich allwissend ist, wieso sind ihm dann diese Konstruktionsfehler unterlaufen ? Und warum hat er nie nachgebessert ? Gab es keine Qualitätskontrolle ? Hätte er den 7. Tag lieber noch mal ordentlich alles kontrolliert statt Pause zu machen…
Sie haben vollkommen Recht. Allerdings soll er nicht nur allwissend, sondern auch allmächtig und erbarmungsvoll sein. Trotzdem hat er, der uns allen dank seinem Allwissen und seiner Allmacht ein schönes Dasein hätte schenken können, kläglich gepfuscht und kein bisschen nachgebessert. Die Bilanz ist ernüchternd, die schlimmste aller Zeiten.
@Michael
Du must dich halt um den Gedanken der Reinkarnation kümmern, dann suchst du die Ursache nicht mehr beim göttlichen Weltengrund. Dann beginnst du zu begreifen, was es heisst, den Menschen zur Freiheit zu führen.
Sie sind doch bloss zu dumm, um den für menschliche Hirne unergründlichen göttlichen Ratschluss zu begreifen und glauben noch immer, schlauer als der Herrgott persönlich zu sein, indem Sie ihm „Konstruktionsfehler“ und ähnliches vorwerfen. Als ob Sie die geringste Ahnung von dieser Konstruktion hätten, bloss weil man Sie ein paar Jährchen mit lückenhaftem Schulbuchwissen vollgestopft hat, das Sie längst wieder vergessen haben. Was können Sie in Ihrer geistigen und körperlichen Beschränktheit von ein paar hundert Gramm Hirn und ein paar Jahrzehnten Leben denn schon von Allwissenheit, Ewigkeit oder gar Allmacht wissen?
Den Herrgott werden Ihre anmassend lahmen Entschuldigungen wohl kaum interessieren, wenn er beim Jüngsten Gericht kommentarlos nach links zeigen wird.
@NetWarrior – mit dem Gedanken der Reinkarnation habe ich mich durchaus schon beschäftigt. War aber eher unbefriedigend unter der Voraussetzung das mir keiner sagen kann, als was ich wieder komme !
@Jessas Neiau – ja es muss auch Menschen wie Sie geben. Wie sonst hätte sich der christliche Glaube auch sonst so verbreiten können. Nichts wissen, aber alles glauben und andere schlecht machen. Können Sie mir auch nur einen einzigen wissenschaftlich nachprüfbaren Beweis über die Existenz vom Herrgott geben ? Alles Geschwurbel !
Sehr gut geschrieben. Ich weiss wovon ich spreche, mein Mann ist an Alzheimer erkrankt, er ist noch am Anfang, aber es ist nicht leicht damit unzugehen, vor allem wird er erst dieses Jahr 65 Jahre alt. Seine Mutter hatte es schon und seine Brüder leider auch.
für meine Arbeit mit Angehörigen, die nach und nach lernen, mit ihren dementiell veränderten Ehepartnern oder Eltern so umzugehen, dass sie an der neuen Situation nicht zerbrechen, sind die authentischen, literarischen Beispiele eine wertvolle Hilfe. Dafür bin ich dankbar. Ja zu sagen und nicht: ja aber – das ist mein Verständnis von menschengemässer Nächstenliebe. Danke Frau Tietjen, dass Sie uns mit Ihrem Buch teilhaben lassen.
Norbert Zimmering, 58730 Fröndenberg
Danke für den guten Artikel, Frau Aeschbach. Mit meiner Mutter habe ich das sehr ähnlich erlebt.
Der hervorragend und einfühlsam geschriebene Artikel bringt es auf den Punkt. Auch mein Vater hatte 10 Jahre Alzheimer und wir mussten dem Verfall eines vormals selbstständigen, lebensbejahenden Mannes zum unbeholfenen Menschenkind hilflos mit ansehen.
Das ist wirklich sehr berührend geschrieben, Frau A. Am ’schönsten‘ fand ich ihre Analogie zu einem alten Liebespaar, dass Hand in Hand auf der Parkbank sitzt und eine ganz neue Nähe findet (das ist überhaupt nicht seltsam, sondern eine Freude, dass Sie das mit Ihrem Vater noch finden durften, auch unter diesen Umständen).
Mein Buchtipp, der mir persönlich sehr die Augen geöffnet hat, ist Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil.
Danke.
Danke für ihren Beitrag. Sehr berührend. Die wenigsten wissen, wie schwierig es ist Menschen mit Demenz zu betreuen. Hut ab vor allen, die das tun. Irgendwann kann ein Angehöriger diese Aufgabe nicht mehr stemmen. Die geschlossenen Demenzabteilungen der Altersheime sind sehr voll. Und es werden immer mehr. Das Personal muss ungeheures leisten. Jede Handlung erfordert Geduld und Nerven. In einer späteren Phase der Demenz braucht der Mensch 24 Stunden Betreuung. Eine Arbeit, die manchmal an die Grenzen des Erträglichen geht. Danke allen Menschen, die diese Arbeit machen. Man darf trotz allem den Menschen hinter dieser Krankheit nie aus den Augen verlieren. Eine grosse Herausforderung an unsere Gesellschaft!
Ich schliesse mich dem Dank an das Personal der Pflegeeinrichtungen an. Was diese Menschen tagein tagaus (und in der Nacht) pflegerisch, aber auch emotional und sozial leisten, verdient unsere grosse Hochachtung.
Meine allererste Lektüre heute Morgen – und bin berührt!
Schliesse mich an.
Noch als Hinweis: es gibt einen ausgezeichneten Film mit Julianne Moore zu dem Thema: Still Alice
Und dann gibt es noch den anderen Film, „Away from Her“, sowie das Buch von Margaret Forster, „Ich glaube, ich fahre in die Highlands“.