Halt mich fest!

In «Zerrissene Umarmungen» gehen Penélope Cruz als Lena und Lluís Homar als Mateo Blanco in einen zärtlichen Clinch. Foto: Universal Pictures International

Kürzlich führte ich ein Interview mit einem älteren Herrn. Nach dem mehrstündigen, intensiven Gespräch, ich war fast schon am Gehen, fasste er mich sanft am Oberarm, streichelte diesen und sagte zu mir: «Sie sind eine tolle Frau.» Ich war sofort auf Abwehr eingestellt und zuckte zurück. Er schien im gleichen Moment mein Unbehagen zu spüren, liess mich los und stotterte: «Entschuldigen Sie, das hätte ich nicht machen und sagen dürfen.» Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und verabschiedete mich schnell.

Nach dieser Begebenheit wurde mir wieder einmal klar, wie wichtig mir Berührungen sind – allerdings nur von Menschen, die ich mag oder liebe. So begrüsste ich meine Freundinnen und Kollegen früher mit Wangenküssen, heute nehmen wir uns in den Arm und drücken uns kurz, aber herzlich. In Zeiten von Facebook, Smartphone und Co. scheint das Bedürfnis, sich körperlich (in einem vertrauten Rahmen) auszudrücken, immer wichtiger. Ich halte auch gern Händchen, und das nicht nur mit meinem Mann, weil ich selber weiss, wie gut es tut, bei Sorgen oder Notsituationen menschliche Wärme zu spüren.

Vor ein paar Jahren verstarb mein geliebter Hund Jillie sehr plötzlich. Ich kam am Morgen danach als Chefin in mein neues Team. Man musste mir die Trauer angesehen haben, obwohl ich versuchte, ein Pokerface aufzusetzen. Eine Kollegin, die ich gerade drei Tage kannte, kam auf mich zu und nahm mich tröstend in den Arm. Ich brach in Tränen aus, das erste und einzige Mal in meinem Arbeitsleben. Aber diese spontane Umarmung war so tröstlich, dass sie jegliche Peinlichkeit vergessen liess.

Warum uns Berührungen berühren

Berührungen lassen uns Halt im Leben finden. Egal, ob ich Händchen halte bei einer Freundin mit Liebeskummer oder bei meiner alten Schwiegermutter im Heim, es gibt uns beiden ein gutes Gefühl. Schliesslich entwickelt sich der Tastsinn als einer der ersten Sinne und bleibt fast ungetrübt bis ins hohe Alter erhalten. Bei Umarmungen schüttet der Körper das Hormon Oxytocin aus, das gegen Stress wirkt. Der Blutdruck sinkt, das Stresshormon Cortisol wird vermindert, Ängste und Schmerzen verblassen.

Am allerschönsten sind Berührungen natürlich, wenn man frisch verliebt ist. Und schon Wladimir Nabokow wusste: «Neben der Liebe auf den ersten Blick gibt es auch die Liebe auf die erste Berührung. Und die geht vielleicht noch tiefer.» Aber auch bei langjährigen Paaren, die sich regelmässig anfassen, ist das Immunsystem stärker als bei Berührungsmuffeln. Diese Tatsache macht sich auch die ganze Wellnessindustrie zunutze und bietet quasi ein Ersatzangebot. Eine Massage zu geniessen, erfüllt das urmenschliche Bedürfnis vieler Menschen nach körperlicher Nähe.

An Kuschelpartys auf Tuchfühlung

Was aber tun, wenn wir alleine sind, und auch die Berührungen von Freunden eher selten sind? Da bieten sich «Kuscheltherapeuten» an. An sogenannten Kuscheltagen oder -partys kann man dann auf Tuchfühlung gehen. «Die Kuschelenergie, das ist der nährende, entspannte Kontakt zu anderen, ohne dass es in erotische oder sexuelle Bereiche abgleitet. Es geht um achtsame und absichtslose Berührungen und den hundertprozentigen Respekt deiner individuellen Grenzen!», heisst es auf der Website Herz-kuscheln.ch. Nun, es ist definitiv Geschmackssache, ob man mit Fremden in den Kuschel-Clinch gehen will.

8 Kommentare zu «Halt mich fest!»

  • Silvia sagt:

    Eine Freundin entschied sich für die Heirat, „Für immer“. Warum ? Sie war sehr berührt dass ihr Freund sie liebensvoll zudeckte als sie schon am einschlafen war. Sie dachte da „ER ist es, das erste mal in meinem Leben dass mich jemanden zudeckt ! Es scheint harmlos aber es ist es nicht : sind seit 30 Jahren verheiratet und haben sich immer noch gerne.

  • Macihangikanalda.com sagt:

    Toller Artikel. Vielen Dank.

  • Kokopelli sagt:

    Dass ich verhaltens- und berührungsgestört war wurde mir zum erstenmal bewusst, als ich ein sogenanntes „Drittweltland“ besucht habe.

    Zum Glück können wir selbst etwas daran ändern und ungezwungener leben, sogar mehr Lebensfreude liegt drin.

  • Christina sagt:

    Also sorry, dieses dreimalige Geküsse vor Arbeitssitzungen sind mir lästig. Und auch von Kolleginnen und Kollegen bei jeder Gelegenheit. Etwas anderes ist es in einer besonderen Situation: Eine Gratulation, ein Wiedersehen nach langer Zeit, ein unerwarteter Erfolg.
    Zum Artikel: Diese Geste des älteren Herrn hätte ich sympathisch gefunden.

  • Hanspeter Niederer sagt:

    Gekaufte Berührung? Schauder !

    • Lori Ott sagt:

      Da bin ich absolut Ihrer Meinung!
      Und bevor ich aus lauter Einsamkeit so einen pseudo-offenen herbeigezwungenen Anlass namens „Kuschelparty“ auch nur in Betracht zöge, würde ich einen Hund kaufen und mit dem kuscheln… nein, nicht dass ich das wirklich tun würde, aber es ist in etwa in gleichem Mass pervers.

  • Marcel Zufferey sagt:

    Call Girls prophezeie ich eine grossartige Zukunft: Das dürften in absehbarer Zukunft noch die einzigen Frauen sein, mit denen ein ungezwungener- oder sollte man langsam lieber sagen: unverdächtiger Kontakt noch möglich ist…

    Schwere kollektive Neurosen werden langsam zu einem ernsthaften Problem. Zumindest scheinen sie zur neuen (feministischen) Normalität zu werden. Es gibt Kreise, die befürchten, der Puritanismus schleiche sich wieder durch die Hintertüre hinein. Optimisten sehen das nicht so. Sie sehen vielmehr, dass er gerade grossen Schrittes durch den Haupteingang tritt…

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