«Das ist eine Sucht»

(iStock)

Eitelkeit kennt kein Alter: Männer kompensieren ihre Kalorienaufnahme häufig mit übermässigem Training. (iStock)

Prof. Dr.MMag. Barbara Mangweth-Matzek.

Prof. Dr.MMag. Barbara Mangweth-Matzek.

Essstörungen sind nicht ausschliesslich ein Problem von jungen Frauen. Neue Studien zeigen einen deutlichen Peak bei Frauen ab 45 und bei Männern ab 50 Jahren. Die Psychotherapeutin Barbara Mangweth-Matzek* von der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin in Innsbruck ist eine der ersten Wissenschaftlerinnen, die sich mit Essstörungen bei Männern und Frauen im mittleren und höheren Alter beschäftigen.

Erwachsene Männer, die unter Essstörungen leiden, waren bislang gesellschaftlich kein Thema. Warum wird jetzt darüber gesprochen?

Weil es die erste Studie ist, die dies untersucht. Bisher kannte man vor allem die Magersucht bei jungen Männern. Momentan erforschen wir Essstörungen bei Männern in der Midlife-Crisis. Die weiblichen Teilnehmerinnen einer früheren Studie hatten vor allem mit Binge-Eating (Essattacken) zu kämpfen. Die männlichen Teilnehmer kompensieren ihre Kalorienaufnahme mit übermässigem Training und teilweise exzessivem Sport. Der Ursprung bei Männern und Frauen ist jedoch der gleiche: Eine tiefe Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und die Angst, nicht mehr als jung und attraktiv zu gelten.

Mal eine Tafel Schokolade, das kennen wir ja alle. Wo fängt die Krankheit an?

Mal zu viel zu essen und danach Schuldgefühle haben, das liegt alles im Rahmen der Normalität. Man verliert nicht die Kontrolle über sein Essverhalten. Binge-Eating geht mit einem Kontrollverlust einher. Die Betroffenen stopfen innert kurzer Zeit alles in sich hinein, Joghurt, Käse, Schokolade, Teigwaren, alles, was sie sich sonst im Alltag nicht erlauben. Tausende von Kalorien. Die Betroffenen sagen dann: «Es ist wie eine Sucht, ich muss alles essen.» Im Gegensatz zu Bulimikern erbrechen die Binge-Eater eher selten, das heisst, sie nehmen zu, was das Unbehagen mit dem eigenen Körper verstärkt.

Ist Binge-Eating eine weibliche Krankheit?

In erster Linie, ja. Männer trinken vielleicht zu viel Alkohol oder verausgaben sich beim Sport. Im Gegensatz zu Männern zeigen Frauen ihre innere Unzufriedenheit nicht durch äusserliche Aggression, sondern strafen sich selber, zum Beispiel eben mit übermässigem Essen. Diese Muster werden in der Jugend gelegt, und treten oft im fortgeschrittenen Alter in Krisenzeiten wieder auf.

Welche gesundheitlichen Folgen hat Binge-Eating?

Es ist ein Riesenproblem für die Speiseröhre, die Zähne, den Magen, die Verdauung. Und natürlich auch für die Psyche.

In den späten Vierzigern nimmt die Lebenszufriedenheit erwiesenermassen zu, trotzdem haben Frauen ab diesem Alter wieder mehr Essstörungen. Warum?

Eitelkeit hört im Alter nicht auf. Wir wollen schlank und schön bleiben. Das hat die Natur aber so nicht vorgesehen. Viele Frauen nehmen vor und in der Menopause zu, auch weil sich der Stoffwechsel verlangsamt. Wenn da noch problematische Lebensphasen dazukommen, eine innere Leere, Kinder, die ausziehen, oder eine Scheidung, wollen sich viele Frauen neu erfinden und dann beginnt oft das Hungern, Binge-Eating oder Diäten.

Laufen Frauen, die regelmässig auf Diät sind, eher Gefahr, in eine Essstörung hineinzurutschen?

Ja, ganz klar. Aus einer Diät kann sich immer eine Essstörung entwickeln. Etwa 90 Prozent aller Fälle beginnen auf diese Weise. Viele Frauen hadern ein Leben lang mit dem Essen, ernähren sich restriktiv und sind immer unzufrieden. Sie beobachten missgünstig, wenn Kolleginnen ein Stück Kuchen essen und nippen an ihrem Espresso. Aber das Altern lässt sich auch mit Hungern nicht aufhalten.

Wie werden Essstörungen bei Ihnen behandelt?

Medikamentös mit Antidepressiva und Psychotherapie.

Gibt es Ihrer Meinung nach noch Frauen, die mit ihrer Figur zufrieden sind?

(lacht) Wenn ich mich so rumhöre, müsste ich sagen, Nein. Es ist ja heute fast nicht mehr erlaubt, zu sagen: «Ich gefalle mir so, wie ich bin.» Damit macht man sich verdächtig. Mein Rat: Wenn das Gewicht in einem normalen und damit gesunden Bereich liegt, sollte man sich damit arrangieren.

10 Kommentare zu ««Das ist eine Sucht»»

  • Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES sagt:

    Auch die Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES in Zürich (www.aes.ch) verzeichnet in den letzten Jahren vermehrt Anfragen von Personen im Alter von 40-50 Jahren. Viele Menschen sind der Ansicht um jeden Preis ihren ‚jugendlichen‘ Körper erhalten zu wollen, auch wenn sie dabei in eine Essstörung geraten. Auch für ältere Menschen können Essstörungen schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben.
    Die meisten Anfragen kommen aber immer noch von jungen Menschen im Alter von 18-24 Jahren.

  • edith schmidt sagt:

    das selbstwertgefühl ist eine ziemlich komplizierte sache. lernen mit sich selbst umzugehen und sich so zu akzeptieren wie man ist, ein häufig langer prozess ! meine beobachtung ist aber , dass vor allem von aussen, auch in freundeskreisen immer wieder menschen ungefragt! auf die mehr oder weniger kilos bezug nehmen und den betroffenen mitmenschen mit geradezu unanständigen und verletzenden sätzen konfrontieren! warum ist die figur immer so schnell und oberflächlich das thema bei männern u frauen? haben denn all die leute keine echten probleme? überfluss scheint zu verderben und die empathie auszurotten.. nehmt das gegenüber doch einfach mal auf einem intelligenteren niveau wahr und redet von was wichtigerem, spannenderem! und arbeitet an der eigenen akzeptanz! edith

  • Eduardo sagt:

    „In den späten Vierzigern nimmt die Lebenszufriedenheit erwiesenermaßen zu …“ – Das ist äußerst zweifelhaft und bestimmt mehr Wunsch als Wirklichkeit. Die Erkenntnis, dass man ab dem Alter von 35, 40 unaufhaltsam und mit exponentiell zunehmender Geschwindigkeit an körperlicher, also sexuell-erotischer Attraktivität verliert, trifft Männer wie Frauen – natürlich in individuell unterschiedlichem Maße – wie ein Hammer. Noch weitaus schlimmer wird dies, wenn man in seiner Jugend viel verpasst hat. Da helfen letztlich weder Medikamente noch psychotherapeutische Märchen, Lügen und Illusionen. Frau Mangweth-Matzek ist 50, auch ihr steht also diese entsetzliche Erfahrung bevor.

  • Christoph sagt:

    Ich habe jetzt die ehemalige Tennisspielerin Marion Bartoli gesehen. Innerhalb von drei Jahren hat sie unfassbar viel abgenommen. Jetzt sieht sie mager und 20 Jahre älter aus, als sie ist. Es ist wichtig, dass man das richtige Maß findet.

  • Markus sagt:

    Im Artikel steht: „Wir wollen schlank und schön bleiben. Das hat die Natur aber so nicht vorgesehen“.
    Hier muss ich widersprechen. Doch! Die Natur hat das sehr wohl so vorgesehen. Die Natur hat aber nicht vorgesehen, dass wir hochpotente Lebensmittel in rauhen Mengen konsumieren welche in der Natur gar nie vorkommen und die Natur hat auch nicht vorgesehen, dass wir uns überhaupt nicht mehr körperlich anstrengen müssen um zu überleben.

  • Hassan Lahned El Latif sagt:

    Das haben mich meine Kollegen auch gefragt, als ich in der Marathon Vorbereitungsphase 90 KM die Woche gelaufen bin: bist du nicht süchtig?

  • Hans Jucker sagt:

    Wenn ich die Alternative habe:
    „Antidepressiva und Psychotherapie“ und dick?
    Dann lieber schlank und krank.

  • Ralf Schrader sagt:

    ‚Wenn das Gewicht in einem normalen und damit gesunden Bereich liegt, sollte man sich damit arrangieren.‘

    Nun muss nur noch jemand kompetent erklären, welches der normale Bereich ist.

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