Männer sind die neuen Frauen

Neulich widmete die «SonntagsZeitung» Joël Dicker einen Artikel. Der junge Mann ist der neue Stern am Schweizer Literatenhimmel und hat einen internationalen Bestseller geschrieben. Was interessant genug ist. Umso besser, dass der Mann mit seinen 28 Jahren blendend aussieht. Doch zum Treffen mit dem Journalisten, so bemängelte dieser bereits auf der ersten Zeile, sei der Schriftsteller «ungepflegt» erschienen. Und habe das nicht einmal zu verbergen versucht.
Wäre Dicker im fleckigen Flanellhemd und einer Wodkafahne aufgetaucht und hätte mit seiner Zigarette Löcher in den Hotelteppich gebrannt, wäre diese Bemerkung natürlich interessant und angebracht gewesen. Doch Dicker ist ein wohlerzogener junger Mann. Über eine dreiviertelmillion Mal hat Dicker seinen Roman allein in Frankreich verkauft – und das innerhalb weniger Monate. Warum der Leser da als erstes darüber informiert werden muss, dass Dicker sein Gesichtshaar am Morgen der Begegnung nicht sorgfältig entfernt hat, bleibt schleierhaft. Zumal er eigentlich immer mit einem Dreitagebart auftritt, wie eine kleine Google-Suche zeigt.
Noch vor kurzer Zeit hätte dies als journalistischer Fauxpas gegolten. Es gab immer jemanden, der sich aufregte, wenn Politikerinnen oder Managerinnen allzu penetrant über Äusserlichkeiten charakterisiert wurden. Frauen sollten wie Männer auch an ihren Leistungen gemessen werden und nicht an der Haarfarbe. Gebracht hat es nicht viel, eher im Gegenteil. Körperliche Fitness ist auch für Männer heute ein Killerkriterium – besonders auch, wenn sie Erfolg haben wollen. Und zum Einstieg in beinahe jedes Porträt liest man heute ein oder zwei Abschnitte zu den spezifischen körperlichen Eigenschaften der Porträtierten (Augenfarbe, Frisur oder eben die Gesichtsbehaarung). Die ästhetische Klassifizierung ist heute nicht mehr nur den Frauen vorbehalten, sondern trifft Männer genauso.
In derselben «SonntagsZeitung» war denn auch ein mehrseitiges Dossier zum Thema Schönheitsoperationen bei Männern zu finden – als kleine Hilfestellung für alle, die sich noch nicht für ihre ganz persönliche Problemzone entscheiden konnten. Und wer hofft, dass dies nur eine vorübergehende Erscheinung ist, sieht sich schnell enttäuscht. Zum Beispiel, weil Männer heute so unbeschwert über ihre Diäten und Fitnessprogramme prahlen, wie das seit den Achtzigerjahren keine Frau mehr wagen würde – schliesslich sind Diäten etwas für Loser, wenn man sie nicht in sein tägliches Leben integrieren kann. Und dann ist es keine Diät mehr, sondern ein «gesunder Lifestyle». Wir Frauen haben irgendwann gelernt, dass Eitelkeit in Ordnung geht, solange man sie unter «Gepflegtheit» subsumieren kann. Aber dass das nicht bedeutet, dass wir jedem Dahergelaufenen in extenso unsere Tricks und Marotten unterbreiten müssen. Insgeheim mögen viele Frauen froh sein, wenn ihre Männer sich mehr um sich und ihre Gesundheit kümmern. Das befreit sie vom Dilemma, das Gewichtsmanagement für den Partner übernehmen zu müssen, was noch nie eine einfache Aufgabe war. Den Gatten beim dritten Dessert diskret daran zu erinnern, dass er es jetzt vielleicht etwas übertreibt, ist nicht nur eine undankbare Aufgabe, sondern eine, welche die Fähigkeiten eines Meisterdiplomats erfordert.
Dennoch hoffe ich, dass die Männer sich nicht wirklich auf dieses Spiel einlassen werden. Und Journalisten bei Gelegenheit auch darauf hinweisen, dass der Umstand «Zahnbleaching: ja oder nein» vielleicht von eher geringfügiger Relevanz ist. So wie es diesen Sommer eine Handvoll Schauspielerinnen taten, die sich gegen sexistische Fragen ihrer Interviewer wehrten. Am besten war dabei Anne Hathaway. Als der Interviewer nicht mehr aufhörte nach der speziellen Diät zu fragen, die sie für ihre Rolle als Catwoman einhalten musste, fragte sie zurück: «Warum interessieren sie sich so für diese Diät? Möchten sie selber mal einen Catsuit tragen?»
Bild oben: Teilnehmer einer Botox-Party in den USA. (Foto: Flickr/Oceanview Med Spa)
14 Kommentare zu «Männer sind die neuen Frauen»
Im Englischen gibt es einen prägnanten Ausdruck für die beschriebene Sorte von Männern: Pussies!