Das Gefühl der Eroberung

BlogMag663

Neulich, meine Damen und Herren, waren Richie und ich mal wieder in Las Vegas. Unser gesamter Aufenthalt in diesem vermeintlichen Babel der Wüste war, wie man es von Vegas erwarten darf, totally glitzy, wir wohnten im Wynn, assen bei Spago in Caesars Palace, besuchten die Nachtclubs Tryst und Pure – und trotzdem war das Ganze irgendwie ein bisschen … naja, um einen amerikanischen Ausdruck zu benutzen: corporate. So wie Las Vegas eben heute ist: der Ort, wo die Kardashians hinfahren, um Spass zu haben. Natürlich war ich trotzdem froh, dass wir da waren. Denn selbstverständlich geht es darum, dass Reisen angenehm sein sollte, aber es geht auch darum, dass man sich belehren lässt, alles Sonderbare und Persönliche eines Landstrichs in sich aufnimmt, Eigenart und Sitte des dortigen Menschenschlags kennenlernt mit dem Gefühl innerer Bildung und kultureller Bereicherung. Und wenn dazu die eine oder andere enttäuschte Erwartung gehört, die Einsicht, dass es an diesem oder jenem Ort doch nicht ganz so ist wie man sich das vorgestellt und ausgemalt hatte – dann bleibt das Reisen seinem Wesen nach doch stets mit dem Neuen verbunden, der Entdeckung, der Suche nach Glück. Jedenfalls, Sie wissen schon, idealtypisch. Auf diesen Idealtyp des Unterwegsseins zielte der österreichische Dichter Stefan Zweig, als er vor über 80 Jahren schrieb: «Noch von uralten Zeiten her umwittert das Wort Reise ein leises Aroma von Abenteuer und Gefahr, ein Atem von wetterwendischem Zufall und lockender Unsicherheit. Wenn wir reisen, tun wirs doch nicht nur um der Ferne allein willen, sondern auch um des Fortseins vom Eigenen, von der täglich geordneten ausgewählten Hauswelt, um der Lust willen des Nicht-zu-Hause-seins und deshalb Nicht-sich-selbst-seins. Wir wollen das blosse Dahinleben durch Erleben unterbrechen.» Man kann das auch so ausdrücken: «Reisen muss man, oder man kommt hinter nichts.» Auch das ist nicht von mir, sondern von Voltaire. Und das trifft es genau. Darum reist der Mensch! Und die kostbarsten Momente der Überraschung sind jene, in denen wir unterwegs neue Seiten an uns selbst realisieren; spüren, wie Aufbruch und Bewegung und Entdeckung, die spannungsvolle Verbindung zwischen dem Niegesehenen und unserem überraschten Blick, uns selbst verändern, wir ein Zuwachs an Weltgefühl geniessen, mit ebenjener Sensation innerer Bildung und kultureller Bereicherung. Und man fühlt einen feinen seelischen Reiz, einen merkwürdig prickelnden Stolz, das Gefühl der Eroberung.

Der Tod der Reise als Bildungserlebnis

Und deswegen bedeutet die Abschaffung der Überraschung den Tod der Reise als Bildungserlebnis: Dabei sein, ohne teilzunehmen. Alles sehen und nichts erfahren. Sie wird aber betrieben, diese Abschaffung. Das entsprechende Reisekonzept heisst: «all inclusive». Im Rahmen eines hermetischen All-inclusive-Trips, bei dem sämtliche Reiseleistungen in den Grenzen einer dafür eingerichteten Ferienanlage angeboten werden, kann der Tourist des 21. Jahrhunderts wenigstens für eine gewisse Zeit scheinbar einmal das tun, was ihm in seiner kommunen Daseinsform verwehrt bleibt: grenzenlos konsumieren, seine gesellschaftlichen Malessen vergessen und sich in einer fiktiven Welt sonnen. Meist ohne Schutzfaktor, übrigens. Und ohne jede Überraschung. Manche Philosophen sprechen hier von «Gereistwerden», weil es bei dieser Form des Reisens nicht primär darum geht, an Eindrücken und Erfahrungen zu gewinnen. Es ergeben sich keine existenziellen Bereicherungen, bis auf: endlose Buffets. An den Reisezielen ist im Grunde genommen nur die Distanz zum Alltag interessant, mit Sonne, Strand und Müssiggang. Unwägbarkeiten und Risiken werden gemieden. «Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen», hat Hermann Hesse gesagt – und das ist bei All-inklusive eben nicht der Fall. Insofern ist dieses moderne Pauschalkonzept eigentlich gar keine Reise, jedenfalls nicht im klassischen Sinne.

Genauso wenig übrigens kommt der Überraschungsfaktor – obschon sie ihn im Namen tragen – bei den sogenannten «Überraschungsreisen» oder «Mystery Vacations» oder «Blind Bookings» ins Spiel, die eine Überraschung versprechen, die keine ist, sondern lediglich ein Pseudo-Risiko als Pseudo-Erlebnis. Das Konzept geht hier so: Der Mensch, der verreisen will, bucht bei einem Veranstalter quasi blind. Er kennt nur den Reisezeitraum, den Veranstalter und die möglichen Ziele, aber die konkrete Destination wird dem Zufall überlassen – bzw. wohl eher dem Anbieter, der hier wunderbar Nachfragedellen ausgleichen und auffüllen kann. Auch bei diesem Konzept bewegt sich der Gast schliesslich in einer Blase, selbst wenn er anfänglich nicht weiss, wo sie sich auftut. Auch dieses Konzept hat nichts zu tun mit Reisen als zivilisatorischem Vorstoss, wo der wahre Gott der Wanderer, der Zufall, eine Rolle spielt. Nichts.

Die Überraschung und Entdeckung als wesentliches Moment des Unterwegsseins scheint dabei essentiell zum romantischen Reisebegriff des Bürgertums zu gehören – ein Bürgertum, das es in dieser Form nicht mehr gibt. Anders als die an der protestantischen Arbeitsethik orientierten alten Mittelklassen, die für Vergnügen eine Entschuldigung brauchten, existiert heute, in der Zeit der sogenannten Zweiten Moderne, eine ziemlich mobile Mittelklasse, die sich als Teil einer Erlebnisgesellschaft versteht und Vergnügen und Entspannung geradezu als ihre Pflicht betrachtet. «Wellness» und «Fun» stehen nun allerdings noch lange nicht für die Überraschung oder das Bildungserlebnis unterwegs, sondern viel mehr dafür, dass die Reise nun vor allem als Spiel betrachtet wird, als Event und Spektakel – allerdings geplant, möglichst ohne Eventualitäten und Imponderabilien, strukturiert, aber unverbindlich, sei es als Verwandlung und Rollenwechsel (Biobauer oder Klosterschüler auf Zeit) oder als verdichtetes Erlebnis (Tauchen mit Haien). Die reinste Form dieses leicht regressiven, spielerischen und erlebnisorientierten Tourismus ist der Besuch von völlig durchgeplanten fiktiven Spielwelten wie Disneyland oder Sea World. Oder eben Las Vegas.

Das Ideal des Unterwegsseins

All diese tourismussoziologischen Theoretisierungen haben natürlich ihre Berechtigung und sind interessant – aber worum geht es uns hier? Uns geht es ja hier nicht um die These vom Tourismus als Flucht aus dem verregelten Alltag einer entmenschlichten Arbeitswelt, die der deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger 1958 in seinem Essay «Theorie des Tourismus» aufstellte. (Enzensberger kam natürlich zum Schluss, dieser Fluchtversuch sei zum Scheitern verurteilt, denn der Tourismus als erhoffte Befreiung von der industriellen Welt hätte sich indessen selbst als Industrie etabliert, charakterisiert durch die drei Elemente jeder industriellen Produktion: Normung, Montage und Serienfertigung.) Nein, danke, das ist mir entschieden zu miesepetrig. Wenn Sie mich fragen, dann geht es schlicht darum, dass dem modernen Reisenden das Ideal des Reisens nicht abhanden kommt. Besagtes Ideal ist uralt und besteht darin, dass der Passagier alle Sinne frei hat für Schauen und Lernen, dass er die Welt erfährt, sie erlebt in der Tiefe, ihren erlesenen Werten und Schätzen nahekommt – auch wenn er sich nebenbei rumschlagen muss mit Formularen, Kontrakten, Restriktionen und Grenzen. Und einigen unliebsamen Überraschungen. Zum Beispiel dem Umstand, dass Ryanair gelegentlich ein Cockpitfenster mit Klebeband flickt. Das ist, wenn Sie so wollen, eine Konstante in der Kulturanthropologie des Tourismus. Nicht das Klebeband – das Ideal. Und in dieser Sichtweise gehört die gelegentliche Überraschung zum touristischen Blick, egal, auf welche Weise man ihn anthropologisch konstruiert. Man könnte auch sagen: Sie gehört zum semiotischen Charakter des Tourismus. Touristen sind schliesslich in allen Kulturen damit beschäftigt, Zeichen und Symbole zu sammeln. Man reist nicht nur, um andere Orte kennenzulernen, sondern auch und nicht zuletzt, um sich anderen Situationen auszusetzen. Um die Ordnungsstruktur des Gewohnten zu verlassen und in andere Wirklichkeiten einzutreten, mit allen Unwägbarkeiten, die sie mit sich bringen. Das ist nicht blinde Flucht aus irgendeinem Alltag, sondern eine produktive menschliche Leistung, die neue Erfahrungen ermöglicht.

Der Zuwachs an Weltgefühl (kann auch durch Kakerlaken inspiriert werden)

Und bevor wir hier zu akademisch werden, zum Abschluss eine kleine Anekdote: Neulich kurvten Richie, der beste Ehemann von allen, und ich in einem gemieteten Dodge Charger vor den Toren der Stadt Phoenix, Arizona, durch die Wüste, auf der Suche nach einem Motel, denn es war drei Uhr morgens. Wir hielten hier und dort, aber nichts passte uns, bis ich für einen Motel-Prachtbau aus den 70er Jahren plädierte. Dieser war allerdings mutmasslich ebenfalls seit den 70er Jahren nicht mehr wesentlich instandgesetzt oder auch nur gereinigt worden, wie sich dann auf dem (endlosen) Weg zu unserem Zimmer zeigte. «We made a huge mistake», sprach mein englischstämmiger Ehemann, nach der Art von Gob aus «Arrested Development», als wir die Türe zu unserem Zimmer aufschlossen. «Settle down, Gloomy Gerta!», erwiderte ich aufmunternd. Bevor mir in stumm gefrorenem Entsetzen der Kiefer runterklappte. Denn das erste, was uns aus diesem Zimmer entgegengrüsste, war: Ungeziefer. Eine gemeine Schabe von der Grösse einer kleinen Kuh. Worauf ich wie aufgezogen zurück zur Rezeption marschierte und von dem dort tätigen mexikanischen Einwanderer die 50 Dollar für die Nacht zurückverlangte. Noch im Auto grauste es uns. Aber da war es schon halbwegs lustig. Und was soll ich Ihnen sagen? Es wurde, Sie kennen das, immer lustiger. Diese im Moment reichlich unangenehme Überraschung, im Grunde eine Petitesse, wurde eine der Trouvaillen in unserem Reise-Erinnerungsschatzkästlein, noch heute tischen wir sie gelegentlich auf, mit grosser Freude. Herr Zweig hat dazu Folgendes zu sagen: «Denn nur da, wo wir mit Ärger, Unannehmlichkeiten, Irrtum uns einen Eindruck erkauften, bleibt die Erinnerung besonders leuchtkräftig und stark, an nichts denkt man lieber als an die kleinen Mühseligkeiten, die Verlegenheiten, die Irrungen und Wirrungen einer Reise, so wie man ja auch in späteren Jahren die dümmsten Dummheiten seiner eigenen Jugend am freudigsten liebt.»

Im Bild oben: Das Pseudo-Erlebnis Blind Bookings verspricht den Überraschungsfaktor. (Foto: Germanwings)

5 Kommentare zu «Das Gefühl der Eroberung»

  • Jimmy Cheeser sagt:

    schöner Artikel!

  • Christoph Bögli sagt:

    Schön geschrieben. Aber was bitte ist falsch am Tauchen mit Haien? Oder besser gesagt, was könnte denn mehr dem Ideal des Reisens, dem Schauen, Lernen und der Welterfahrung entsprechen, als solchen (oder anderen) Tieren in deren Habitat zu begegnen? Zumindest vorausgesetzt, es handelt sich nicht um eine dieser Anfütterung-Shows. Oder findet gar im SeaWorld statt..

  • irene feldmann sagt:

    hat schon was, diese schlechten erlebnisse welche tief rein sinken….wahrscheinlich ein verpasster challenge…kann dann noch wurmen…..irgendwo:)

  • tststs sagt:

    Aaaalso wenn man ganz pingelig sein will, da hat auch dieser (oder ähnliche) Trip nach Vegas – Baby – wenig bis gar nichts mit Reisen zu tun, das wären wohl eher Ferien mit mobilem Charakter.
    Die eigentliche Reise, so stelle ich es mir jedenfalls klischeehaft vor, haben Sie First-Class, geschwängert von einer Bloody Mary und einem Cool-Downer verschlafen 😉

  • Globetrotter sagt:

    Nichts gegen Hans Magnus Enzensberger – im Gegenteil. Aber für das Thema Reisen taugt der nicht – zu theorielastig. Wenn schon Schreiberlinge, dann Reise-Praktiker, sich Durchkämpfer, wie Hemingway, Henry Miller, Jack Kerouac, William S. Bourroughs, die auch viel unterwegs waren, Improvisieren können – und auch von echten Reise-Blessuren zu erzählen wissen…

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