Den Boulevard entblösst

Nirgendwo werden Frauen für ihre Körper und Formen lauter und vulgärer angegriffen als in der Boulevardpresse. Und nirgendwo ist der Boulevard brutaler als in England.
Das musste jüngst auch die amerikanische Musikerin, Lyrikerin und Schauspielerin Amanda Palmer erfahren, die man sich als eine Art Lady Gaga der Independent-Szene vorstellen kann. Palmer gab ein Konzert auf dem Glastonbury Festival. Und da sie vom Bekanntheitsgrad her eher den minderen Chargen zuzurechnen ist, war ihr Auftritt den Zeitungen nicht viel mehr als ein paar Zeilen da und dort wert. Einzig die «Daily Mail» widmete Palmer eine ganze Seite. Dabei ging es aber nicht um ihre Musik, sondern um ihre Brüste. Unter dem Titel «Making a boob of herself» («Sie macht sich zur Titte») widmete sich der ganze Bericht dem Umstand, dass Palmers BH und Bluse während ihres Auftritts verrutscht waren und der Fotografenlinse einen Blick auf ihre Brustwarzen erlaubt hatten. Ausserdem berichtete die Zeitung über ihre sexuelle Orientierung und die Farbe ihrer sonstigen Kleider (Hosen in Velvet).
Das ist Business as usual für die «Daily Mail». Aber anders als all die Prominenten, die geduldig hinnehmen, dass die Medien sich nicht für ihre Tätigkeit, sondern nur für ihre Diät und allfällige stilistische Fehlgriffe interessieren, gab Palmer zurück. Auf einem folgenden Konzert in London performte sie einen «Offenen Brief an die‹Daily Mail›». Darin macht sie sich lustig über die «Daily Mail». Zu einem eigens dafür geschriebenen Walzer singt sie: «Ich habe einiges auf dieser Bühne getan, auch Songs gesungen. Aber ihr habt entschieden, das zu ignorieren, und stattdessen ein Bild meiner Brüste veröffentlicht.»
«Es gibt so was wie Suchmaschinen, benutzt sie. Hättet ihr zuvor nur meine Titten gegoogelt, hättet ihr schnell gemerkt, dass das Bild alles andere als exklusiv ist», geht der Song weiter. Denn Palmer ist eigentlich Performancekünstlerin, dafür bekannt, ihren Körper als Teil ihrer Kunst zu verstehen, sodass sie während ihrer Konzerte auch mal ihre Kleider auszieht. Sie läuft ausserdem über den roten Teppich mit unrasierten Achselhöhlen und lieferte sich mit ihrem Label einen berühmten Streit, weil dieses ihren Bauch aus dem Videoclip geschnitten hatte, der angeblich zu dick sei.
«Liebe ‹Daily Mail›», singt Amanda weiter, «Es ist so traurig und eine Schande für die menschliche Spezies, wie der Boulevard Frauen wegen ihres Erscheinungsbildes erniedrigt. Aber ein Lumpen ist ein Lumpen, und dieser hier will nichts mehr zensieren, es scheint, als wolle mein ganzer Körper diesem Kimono hier entfliehen.» Mit diesen Worten lässt sie ihr Kleid fallen und performt ihren Song nackt weiter. Das Publikum johlt, aber sie hält dagegen: «Was ist? Es ist nur ein nackter Körper.» Das Video der Performance verbreitete sich über Twitter und Facebook und schliesslich in den etablierten Medien.
In der Psychologie würde man das eine paradoxe Intervention nennen. Mein Lieblingsbeispiel dafür ist das des Jungen, der seinem Vater helfen soll, eine störrische Kuh in den Stall zu zerren. Anstatt hinten zu schieben, wie ihn der Vater anweist, zieht der Junge die Kuh am Schwanz, worauf diese nach vorne in den Stall hopst. In gewisser Weise tut Amanda Palmer dasselbe. Sie entwaffnet den Boulevard und zeigt ihm den Finger, beziehungsweise legt ihn auf den wunden Punkt: «Ihr meint, ihr seid exklusiv? Von mir gibt es tausend solche Bilder.»
Für den Boulevard war immer schon der Blick durchs Schlüsselloch das wichtigste Verkaufsargument. Es geht darum, seinen Voyeuren das zu zeigen, was eigentlich nicht hätte preisgegeben werden sollen. Zudem operiert der Boulevard mit Scham, um die Frauen zu domestizieren. Das funktioniert aber nur, wenn die Frauen sich beschämen lassen. Ich habe an dieser Stelle verschiedentlich über die Boulevardpresse geschrieben, die sich immer fanatischer auf den weiblichen Körper zu versteifen scheint. Und dafür, dass sie sich an den Frauen aufgeilt, überschüttet sie sie mit Schimpf und Schande. Und zwar dafür, dass sie weibliche Körper haben oder einem bestimmten Bild nicht entsprechen. Verhindern kann man das nicht, aber man kann sich der Schlüssellochdynamik verweigern wie Amanda Palmer.
Im Bild oben: Amanda Palmer auf der Bühne am Coachella Valley Music and Arts Festival in Kalifornien, 18. April 2009. (Keystone/Steve Mitchell)
23 Kommentare zu «Den Boulevard entblösst»
Wenn Gott etwas gegen menschliche Nacktheit gehabt hätte (egal ob Männlein oder Weiblein), dann hätte er (oder sie?) uns ein Fell geschenkt!
Würden alle so reagieren wie Amanda Palmer, dann gäbe es dieses Problem nicht. Nur weil aufgrund kultureller Prägungen ein nackter Körper nicht „bloss ein Körper“ ist, ist das für Boulevardzeitungen überhaupt interessant.
Lustig, dass du das mit dem Fell erwähnst. In 1. Mose 3, 21 steht:
„Und Gott der HERR machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an.“
Ich verstehe nicht ganz, wo der Widerspruch steckt.
Der Boulevard-Journalismus hat schliesslich das Ziel, unsere niederen Instinkte anzusprechen und damit Zeitungen zu verkaufen. Womit ist schliesslich egal, ist ja keine moralische Instanz.
Ausserdem:
Ein Schelm, wer denkt, dass Amanda Palmer einfach brilliant auf der ihr zur Verfügung stehenden PR-Klaviatur spielt!
Wenn die Journalistin eines Mediums, das weiss Gott nicht frei von Boulevard ist, die Boulevardmedien kritisiert, dann sind das schon Krokodilstränen, die da vergossen werden. Der von Frau Binswanger monierte Widerspruch ist auch nur ein scheinbarer, den das primäre Ziel dieser Medien ist es, den Umsatz zu steigern, sei dies nun mit Nacktheit oder aber mit der Kritik von Nacktheit. Und Amanda Palmer hat mit ihrem Auftritt letztlich auch nur eine Steilvorlage gekonnt genutzt, indem sie den ihr zugeworfenen Fehdehandschuh aufgenommen hat; zum PR-Vorteil ihrer selbst und der Trash-Medien.
Für solch intelligente Analysen bin ich Ihnen immer wieder dankbar!
Amanda Palmer Nude Naked Boobs (You tube): 5:54: Einfach anschauen und sich kaputtlachen. Frau hinter Keybord teilt im gemütlichen 3/4 Takt aus. Das Publikum geniesst es.
Danke für den Artikel. Sonst wäre mir dieser intelektuelle Hochgenuss entgangen.