Sicherheitund Singles

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Postpostmodern zu leben, meine Damen und Herren, heisst, das Schicksal nicht mehr zu akzeptieren, und die Abweisung von Schicksalhaftigkeit wird vom zeitgenössischen postpostmodernen Subjekt in zahlreichen Belangen praktiziert: Körperlichkeit und Aussehen, Reproduktion und Beziehungsstatus, Karriere. Eine der Leit- und Symbolfiguren für diese Anschauung und all ihrer Ambivalenzen ist Dr. Frederic Brandt. Ja, schauen Sie gut hin: so kann man aussehen, wenn man sich dem Schicksal in den Weg stellt.

Man kann aber diese Verweigerung vor dem Schicksal auch sehr schön an zwei parallel laufenden Initiativen der Verkehrsbetriebe meiner Heimatstadt Zürich im dem just hinter uns liegenden Monat erkennen (siehe Foto oben): einmal gehts um Sicherheit, das andere mal um Dating, also Partnerfindung. Das heisst: eigentlich gehts im Grunde wohl nur um Sicherheit, Kontrolle, Ausschluss von Zufallsfaktoren. Der Philosoph Alain de Botton hat festgestellt, dass unserer Zeit die Entspannung wohl so schwer fällt wie noch keiner Epoche vor ihr, und das hängt damit zusammen, dass das Prinzip der Leistungsgesellschaft nicht nur Erfolge, sondern auch Versagen stets dem Individuum als eigene Verantwortung zuschreibe: Wenn ich keinen Partner habe, ist das keine unglückliche Fügung, sondern Versagertum. Und wenn ich im Tram hinfliege, dann passiert das, weil ich nicht «stabil auf beiden Füssen» stand. Selbst schuld.

Ich für meinen Teil, liebes Publikum, kann mich noch an eine Zeit erinnern, so gegen Ende des letzten Jahrhunderts, als die Wettbewerbsgesellschaft, in der wir glücklicherweise leben dürfen, noch einen deutlicheren Bezug zur Transzendenz hatte, als zum Beispiel «Erfolg» oder auch «Berühmtheit» noch Konzepte waren, die mit schicksalhaften Beigaben verstanden wurden. Und vielleicht zeigt sich nirgends deutlicher, wie der post-industrielle Mensch die Kategorie «Schicksal» zu eliminieren trachtet, als am modernen Konzept von «Celebrity»: Jeder kann vermeintlich zum «Star» werden (oder sich jedenfalls entsprechend exponieren), das moderne Konzept von «Celebrity» kennt anscheinend keine Transzendenz, keinen jenseitigen Funken, keine übersinnliche Beigabe, in seinem Zentrum steht nichts, was nicht rein menschlich wäre. Man erkennt dies sehr hübsch in der Mischung der schicksalsnegierenden Konzepte «Dating» und «Celebrity» seitens der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ): im «Single-Tram» fahren natürlich auch «prominente Singles» mit, von den VBZ «Special Singles» genannt: Alleinstehende vom Kaliber einer Ex-Miss oder eines Videoreporters des Lokalfernsehens. Very special.

Damit aber möchte ich nicht schliessen. Sondern damit: Den grösstmöglichen Trost, der im Leben erreichbar ist, kann nur die Beziehung zu einer Dimension der Transzendenz vermitteln. Worin immer die besteht. Transzendenz ist laut Duden «das jenseits des Gegenständlichen Liegende, das Überschreiten von Grenzen der Erfahrung und des Bewusstseins» – und eine glückliche Paarbeziehung, zum Beispiel, ist gewiss nicht der schlechteste Weg dahin. Denn – auch auf die Gefahr hin, dass ich mich jetzt anhöre wie Margot Kässmann: Leben ist Begegnung. In der vom Zufall und Schicksal geprägten Offline-Welt. Deshalb kam Joseph Beuys zu der Erkenntnis: «Die Mysterien finden im Hauptbahnhof statt.» Ich ergänze: Kaum im Single-Tram. Aber natürlich kann mans ja trotzdem mal versuchen.

15 Kommentare zu «Sicherheitund Singles»

  • neni sagt:

    single tram?????? der blödsinn nimmt kein ende…..als wäre single sein eine krankheit, die man sofort kurieren müsste……………

  • Philipp Rittermann sagt:

    ich traue mich fast nicht, den wieder einmal so schön philosophisch gehaltenen artikel aufs profane zu reduzieren. natürlich tue ich es trotzdem. die vbz lanciert ein „single-tram“. „ich bin auch ein schienen-kuppler-für-arme“. lächerlich. kommerz-zeitgeist für cyber-stupid-enttäuschte. non-verbales doof-missen-massaker im tram. cüpli-mutanten-2-tage-promis im tram. kommunikationsversuch für beziehungsunfähige video-journalist/innen. fürwahr eine bahnbrechende idee eines durchgekoksten art-directors. ich huldige der neuzeit und ziehe mich zurück in die transzendenz des letzten jahrhunderts.

    • ursus sagt:

      profan und doch so schön passend verfasst…

    • Lord Henry sagt:

      Mein lieber Herr Rittermann, mit Bestürzung lese ich, daß Sie auf den zeitgenössischen Wahnsinn mit einer Art von misanthropischer Animosität reagieren. Man wird Sie wohl nicht als Proselyten für diese Chimäre einer neuen, besseren Welt gewinnen – zumindest nicht nüchtern. Außerdem sollten Sie die übrigen Rezensenten unbedingt darüber aufklären, daß mit „Single“ nicht unbedingt „Single Malt“ gemeint ist.( beides kann natürlich pathologisch sein )

  • henry Wotton sagt:

    Ich würde mich, was die psychedelische Wirkung anbetrifft, auf probadere Mittel verlassen, als auf Verkehrsbetriebe und Bahnhöfe. Meiner Erfahrung nach sind längerfristige Partnerschaften übrigens nur mit solchen Mitteln noch zu ertragen……..

    • Philipp Rittermann sagt:

      bleiben wir beim single-malt – eure lordschaft – da weiss man(n), was man hat.

    • Lord Henry sagt:

      Ja ja der Alkohol, eine der letzten legalen Drogen, die sie uns lassen. „Alles was mir Spaß macht ist ungesund, ungesetzlich oder unmoralisch“…..

    • Philipp Rittermann sagt:

      geschätzter henry. lassen sie es mich so formulieren. alles, was uns „retromanen“ in der heutigen geistlosen zeit hilft die moral zu heben und die desperation der seichtigkeit und stumpfsinnigkeit weiterhin zu ertragen, sei uns grenzüberschreitend erlaubt. ich erteile uns hiermit die absolution als legitimation zu unserem vermeintlich wüsten tun.

  • michael sagt:

    wie hilft mir dieser artikel jetzt weiter ? und vorallem – bei was ?

  • Lia sagt:

    das Witzigste am Singletram ist, dass sich die Singles nicht mal da trauen, jemanden anzusprechen, sondern dann lieber am nächsten Tag auf gesehenatvbz.ch schreiben, sie hätten die betreffende Person den ganzen Abend angestarrt und sie solle sich doch bitte melden. Aussicht auf Erfolg = null – würde ich den ganzen Abend angestarrt, aber nicht angesprochen werden, würde ich eher auf einen Pickel auf der Nase tippen als auf Interesse an meiner Person.

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