Immer richtig angezogen

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Das gesellschaftliche Leben scheint immer komplexer zu werden, meine Damen und Herren, und wissen Sie, was dazu beiträgt? Eine Schwemme von Dresscodes. Dieser Zustand spiegelt natürlich die zunehmende Unsicherheit des fragmentierten postpostmodernen Subjekts wider. Das zeitgenössische Ich ist ja nichts als ein dauerndes Provisorium, das die Module, aus denen es besteht, immer wieder neu zusammensetzt, immer schneller – und mehr oder weniger improvisiert. Wir alle sind geworfen, nicht nur in dies verwirrende Dasein im allgemeinen, sondern auch in eine immer steigende Zahl von Rollen und Situationen und mutmasslichen Verhaltenserwartungen – und wir wollen, bitteschön, für jede dieser Situationen einen Dresscode. Früher war alles ganz anders. Da gab es für die wichtigsten gesellschaftlichen Anlässe eindeutige, meist an den Herren gerichtete Bekleidungsvorschriften, gegen die ein Verstoss undenkbar schien. Dann kamen die Achtziger. Entgegen weitverbreiteter Auffassung waren es nämlich nicht die 70er-, sondern die 80er-Jahre, die viele Konstanten von Dresscodes zerstört haben, und wenn diese Destruktion eines Symbols bedürfte, dann wäre dies das Auftreten des Bond-Bösewichts Franz Sanchez in «Licence to Kill» (1989), der mit seiner Kombination aus doppelreihigem weissen Dinner-Jacket und schwarzem Hemd aussah wie ein Impresario aus einem Nachtclub in Miami. Versunken die Zeiten, wo das weisse Dinner-Jacket vor allem für Schiffsreisen und Anlässe im Freien reserviert war und wo ein Smoking-Hemd weiss zu sein hatte. Damit war der Damm gebrochen. Und heute haben wir uns mit einer Armada von merkwürdigen Hybrid-Code-Formen rumzuplagen, wie etwa «Black Tie or Dark Business Suit», auch bekannt unter «Black Tie Optional», kurz: BTO. Doch keine Sorge: Wenn sich auch manche Fragen ändern; die Antworten ändern sich nie. Jedenfalls meine. OK, meistens. Hier jedenfalls kommen meine Antworten auf jene fünf Dresscode-Fragen, die mir am häufigsten gestellt werden: Was muss ich anziehen, …

  1. … wenn ich auf eine Cocktail-Party gehe?

    Cocktails sind inzwischen quasi der schwierigste Fall. «Cocktail» ist, ähnlich wie «Casual», eine Auffanglösung für sämtliche Anlässe, bei denen es nicht formell, aber auch nicht völlig ungezwungen zugeht. Damen haben hier, wie stets, mehr Freiheiten als Herren: das kleine Schwarze ist nicht mehr obligatorisch – doch nach wie vor die beste Lösung. Die Faustregel lautet: Dress up or down. Falls Sie über die Ungezwungenheit der Party nicht sicher sind, ist aber Kniefrei mit Clogs sicher die falsche Antwort. Dann gilt: Dress up. Und tragen Sie auf keinen Fall Orange. Orange sagt: Pass auf, sonst passiert was richtig Schlimmes. Deshalb verwendet man es für Rettungswesten, Verkehrskegel und Strafgefangene. Aber nicht für Cocktails.

  2. ... wenn der Dresscode «Come As You Are» lautet?

    Nicht nur die Welt der Gesellschaft, sondern vor allem auch die des Geschäfts sieht sich mit einer Ausweitung der Anzug- und Anziehregeln konfrontiert, und man kann darin eine Widerspiegelung der krisenhaft zugespitzten Zeiten erkennen: Wir wollen Sicherheit – und die vermeintlich sichere Garderobe suggeriert das sichere Benehmen. Und so hat sich eine Vielzahl ganz spezifischer sogenannter «Business Dress Codes» entwickelt; Codes wie «Smart Casual» oder «Semi Formal» oder «Casual Friday» oder «Business Casual»; und einer davon heisst tatsächlich: «Come As You Are» (CAYA). Das ist natürlich nicht wörtlich zu verstehen. Ich weiss nicht, wie es bei Ihnen aussieht, aber eine buchstabengetreue Auslegung von «Come As You Are» würde in meinem Falle bedeuten: Fat Pants und Unterhemd – und das ist hier selbstverständlich nicht gemeint. Gemeint ist vielmehr, dass Sie so kommen sollen, wie Sie «nach Büroschluss» sind, also zum Beispiel für den abendlichen Drink oder das Geschäftsdinner. Männer tragen nach CAYA mithin den Geschäftsanzug, diese klassische Uniform der Gesittung, und dies grundsätzlich auch dann, wenn jemand bei seiner Arbeit keinen Anzug trägt.

  3. … wenn ich zu einer Gala eingeladen bin?

    Grundsätzlich gilt hier «White Tie» oder «Black Tie» (siehe unter 5.). Achtung: Manche Damen sehen mit Nerzstola aus wie Dr. Zaius vom «Planet der Affen». Seien Sie kritisch und fragen Sie eine Person Ihres Vertrauens. Und damit meine ich nicht die Verkäuferin.

  4. … wenn ich auf einer Hochzeit tanze?

    Früher trugen Damen jeden Alters auf Hochzeiten vorzugsweise Pastellfarben und unbedingt einen Hut und massenhaft Juwelen (gerne Familienstücke). Diese Uniformierung ist glücklicherweise obsolet. Heute dürfen die weiblichen Hochzeitsgäste nackte Beine zeigen, ein Minikleid im Balenciaga-Stil anziehen oder auch ein Abendkleid (siehe nachfolgend unter «Black Tie»). Das hängt vor allem davon ab, wie formell die Feier ausgerichtet ist und wie gut Sie die Gastgeber kennen. Unverändert allerdings gilt das NUTB-Prinzip: Never Upstage The Bride. Trotzdem sind auf Hochzeiten hohe Absätze für Damen neuerdings quasi obligatorisch, und ein Ton-in-Ton von Schuhen und Handtasche ist verpönt.

  5. Und, schliesslich und kurz: Was ist der Unterschied zwischen White Tie und Black Tie?

    «White Tie» bedeutet «Grosser Gesellschaftsanzug», und das wiederum bedeutet für Herren Frack und für Damen langes Abendkleid. Bitte tragen Sie keine Armbanduhr dazu. «Black Tie» steht für «Smoking» oder, auf deutsch, «Kleiner Gesellschaftsanzug», und das heisst für Herren dunkler Anzug oder Smoking (ab 18:00 Uhr) und für Damen langes Abendkleid, das aber schulterfrei sein darf bzw. nach dem Vorbild von Kate Moss auch überhaupt gar nicht mehr lang sein muss. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass der Vermerk «Black Tie» auf Einladungen ziemlich viel von seiner Bindungskraft verloren hat; das englische Gesellschaftsmagazin «Tatler» stellte bereits vor einiger Zeit fest, im Durchschnitt könne ein Gastgeber sich glücklich schätzen, wenn bei einem Black-Tie-Anlass ungefähr die Hälfte der Männer im Smoking auftauche. Derart ist die Zeit, in der wir leben, meine Damen und Herren.

Im Bild oben: Leonardo di Caprio in «The Great Gatsby». (Foto: Warner)

24 Kommentare zu «Immer richtig angezogen»

  • Lord Henry sagt:

    Im Flugzeug hatte ich am Wochenende in der „Welt“ einen aufschlussreichem Artikel von Ulf Poschardt über die Bekleidungsgewohnheiten der Deutschen gelesen. Der Maßanzug ( oder eigentlich jeder vorzeigbare An- oder auch Aufzug) sei obsolet, Jack Wolfskin und Konsorten – Stichwort “ Funktionskleidung “ sei
    Ausdruck einer neuen Biedermeier-Kultur, welcher sogar unsere ostdeutsche Kanzlerin in ihrer Freizeit fröhne. Ich würde eher sagen, die Leute ziehen sich heutzutage so an, als wenn sie aus einem brenneden Haus flüchten würden. Absicht möchte man kaum noch jemand unterstellen.(vgl.D.Parker)

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