Was ist ein Klassiker?

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Ich liebe meinen Filofax. Er ist uralt, jedenfalls für heutige Standards des Produktlebenszyklus, nämlich schon beinahe ein Vierteljahrhundert, und es gibt inzwischen längst Smartphones und Tablets und Phablets, die man als Agenda gebrauchen kann, es gibt auch exklusivere oder schickere Kalendersysteme, aber ich liebe den Filofax. Und er hat objektiv Klasse. Quasi. Denn dieser Filofax, dieses uralte Ding, erfüllt zwei wesentliche Kriterien, die nach Einschätzung des famosen amerikanischen Kulturwissenschaftlers Paul Fussell in seinem famosen Werk «Class» (inzwischen selbst ein Klassiker) Dingen Klasse und Charisma verleihen: Alter und Natürlichkeit. Es ist nämlich so: «Die generelle, wenn auch oft implizite Übereinkunft scheint dahin zu gehen, dass Alter den Dingen Klasse verleiht», schreibt Fussell, und: «Materialien haben umso mehr Klasse, je mehr sie aus etwas bestehen, das mal lebendig war.» Die beiden Prinzipien heissen also «archaisch» und «organisch». Und da mein Filofax ziemlich archaisch ist (jedenfalls für einen Filofax) und aus Leder, erfüllt er beide Bedingungen. Und beide Bedingungen liessen sich wohl auch zusammenfassend mit einem anderen Eigenschaftswort erfassen: «echt». Sachen haben dann Charisma, wenn sie echt sind. Wenn sie sozusagen für sich selbst stehen, sich selbst verkörpern, nichts anderes sein und darstellen wollen als das, was sie sind. «Vintage» ist echt; «retro» nicht.

Das ist eine Parallele zur Authentizität der Person; auch Menschen haben dann Charisma, wenn sie echt sind, was übrigens nicht notwendigerweise heisst, dass sie diesfalls auch stets attraktiv oder auch bloss nett wären. Sie können ebenfalls durch und durch scheusslich sein, dann spricht man meist von einem «dunklen» Charisma – aber Charisma nichtsdestotrotz. Für die Welt der Sachen lässt sich sagen: Jeder Klassiker ist authentisch, aber ein authentisches Ding muss deswegen noch nicht für klassisch gelten. Auch hässliche, missratene oder ungestalte Dinge können per se durch und durch echt sein – jedoch nie zum Klassiker werden, denn ein Klassiker ist ja der Wortbedeutung nach immer gewissermassen ein Anklang an die Reinform, die Vollendung, kann also nicht missgestalt oder unharmonisch sein. Dem Klassiker wohnt stets etwas Typisches inne – was nun wiederum nicht bedeutet, dass er nicht der erste seiner Art sein kann und quasi eine Traditionslinie der Form erst konstituiert. Wir sehen das beispielsweise bei industriellen Produkten, deren avantgardistisches Design ganze Nachfolgegenerationen geprägt hat und die (zum Teil) selbst heute noch oder heute wieder produziert werden, zum Beispiel die Klassiker des Automobilbaus, wie etwa der Porsche 911.

Kitsch und Klassik

Ein Klassiker steht sozusagen zwischen den Zeiten; er verbindet oft die Vollendung der Tradition mit etwas Wegweisendem, er zeigt in Vergangenheit und Zukunft zugleich und ist somit zeitlose, perfekte Gegenwart. Das Klassische berührt ewige Themen, schlägt zeitlose Saiten in uns an: Grazie, Schönheit, Harmonie, Ebenmass, Proportion, Liebe – aber auch Tempo, Zorn, Leidenschaft. Klassiker können niemals kitschig sein. Sie sind Urbilder, Ikonen, Wegzeichen, Wegweiser. Sie sind vorbildlich, mustergültig und bleibend. Überzeitlich. Das Überzeitliche ist nun notwendigerweise auch das Überpersonale, doch während der Klassiker immer die Zeit transzendiert, so doch nicht den Menschen schlechthin: Es gibt ganz persönliche Klassiker, die ganz eigenen Beziehungen des Individuums zu seinen Dingen, die Begleiter auf der Lebensgeschichte. Wie mein uralter Filofax. Oder der ererbte Kaffeetisch aus dem Hause meiner Grosseltern, Norddeutsches Biedermeier. Oder das Photo von Brigitte Nielsen mit Widmung.

Diese Dinge sind objektiv mehr oder weniger wertvoll, aber sie alle haben grossen subjektiven, sentimentalen Wert für mich, weil sie Vergangenheit und Zukunft und die zeitlose Gegenwart meiner Lebensgeschichte darstellen. Der sentimentale Wert beruht, wie der Name schon sagt, auf dem Gefühl, und es gibt offenbar Anzeichen dafür, dass in unseren komplizierten Zeiten und hochfragmentierten Gesellschaften die emotionale Objektfixierung der Menschen zunimmt. Die Dinge werden schliesslich ihrerseits zunehmend anthropomorph und fliessend: Sie können immer mehr. Der Wiener Philosophieprofessor Konrad Paul Liessmann schreibt in seinem Buch «Das Universum der Dinge», dass die geänderte Beziehung zu Sachen in der postindustriellen Gesellschaft auch damit zu tun habe, dass aufgrund von Automatisierung und Globalisierung eigentlich niemand mehr wisse, wie die Dinge unseres täglichen Bedarfs zustandekämen, woher sie kommen und wohin sie gehen. Eine solche Ignoranz fördere laut Liessman ein lustbetontes, ästhetizistisches Verhältnis zu den Dingen; aber ich bin da nicht so sicher. Ich finde, um sich auf Dinge einzulassen, muss man sie kennen.

Der Trost der Dinge

Ich bin kein Materialist, wie wohl beinahe jeder Mensch, der einigermassen viel besitzt, denn nur dann kann man wissen, dass Besitz auch furchtbar belastend sein kann. Und doch schätze ich den Trost der Dinge, und ich will Ihnen gerne erklären, was ich damit meine: Die Seele der Sachen hilft uns bei der Selbstvergewisserung. Es ist wie ein Nachhausekommen. Auch das tatsächliche, physische Nachhausekommen bedeutet ja schliesslich, zu vertrauten Dingen zurückzukehren, zwischen vertrauten Sachen zu sein, und ich weiss nicht, wie es Ihnen geht, meine Damen und Herren, aber ich persönlich finde, man kann das Drama des Lebens besser aushalten, wenn man von den richtigen Sachen umgeben ist.

Denn Klassiker wie auch Dinge, die Charisma haben, sprechen etwas in uns an, und es kann wohl nicht schaden, sich hier auf Plato zurückzubesinnen, diesen grossen Geist der griechischen Antike, selbst ein Klassiker, natürlich, dessen sogenannte Ideenlehre auf dem Gedanken fusst, dass jede konkrete Sache Teil habe an einer ewigen Idee. Diese platonische Idee bezeichnet ein wesenhaftes Urbild, einen seinsbegründenden Archetypus, der vor den Dingen und Handlungen liegt, die wir sehen und wahrnehmen. Die sinnlich erfassbaren Einzelphänomene sind quasi Konkretisierungen der Idee, notwendig unvollkommen. Damit verbunden ist Platons Wissens- und Erkenntnistheorie: Vor unserer Geburt haben unsere Seelen ein vollkommenes Verständnis der Ideen, mit dem Auf-die-Welt-Kommen verlieren wir dieses apriorische Wissen. Die Erkenntnis der Ideen kommt nach Platon dadurch zustande, dass wir uns an dieses vorgeburtliche Wissen erinnern: Lernen ist Erinnerung.

Und dieses, nennen wir es: metaphysische Wiedererkennen, macht nicht zuletzt den Zauber der charismatischen Sache aus. Wir alle kennen ja die Magie der Unwiderstehlichkeit, dieses Gefühl von Rausch und Befriedigung, mit dem wir ein begehrtes Ding betrachten und zum Beispiel denken: Dieses eine Zeitplan-Ringbuch hier – das ist die perfekte Verkörperung seiner Art, ein zeitloses Muster von Perfektion. So werden wir berührt, wenn wir ein klassisches Exempel der Gattung sehen, das ist das Bestrickende am platonischen Gedanken der Form – und dann ist man glücklich. Als ob man das Ding schon immer gekannt hätte. So wie ich mit dem Filofax. Wo ist der eigentlich?

Im Bild oben: Ein wunderschöner Filofax in braunem Leder. (Foto: Myfiloworld.com)

7 Kommentare zu «Was ist ein Klassiker?»

  • feldmann irene sagt:

    man kann das drama des lebens besser aushalten, wenn man von den richtigen sachen umgeben ist. oder sachen haben dann charisma wenn sie echt sind, oh herr tingler………..vielen dank, sie sprechen mir direkt von der leber!!!

  • barbara seiler sagt:

    Schöner Beitrag, vielen Dank!

    Aber tun Sie mir doch einen Gefallen und entfernen Sie den Barcode von Ihrer Agenda, dann wird der Klassikgenuss noch ein müü klassischer 🙂

    • Philipp Tingler sagt:

      Liebe Frau Seiler, als ich den Filofax gekauft habe, gab’s noch gar keine Barcodes. Aber was das Foto oben angeht, haben Sie völlig recht.

    • Leonardo sagt:

      Sie haben den Filofax vor 1973 gekauft?

  • tststs sagt:

    Klingt alles gut und kann ich so auch abnicken, nichtsdestotrotz hätte man die Frage auch um einiges schneller beantworten können: Wenn ich das richrige sehe, ist wohl der entscheindende Grund, weshalb Sie sich noch nicht von Ihrem Filofax getrennt haben, der, dass schlicht keine Notwendigkeit hierfür bestand. Punkt. 🙂

    „Ich bin kein Materialist, wie wohl beinahe jeder Mensch, der einigermassen viel besitzt…“ Also Ihre Nonchalance ist sicherlich fast schon klassisch…

  • Carolina sagt:

    Geht mir genauso wie Ihnen, Herr Tingler. Mein Filofax ist einer der ersten Stunde und keine App, kein Outlook kann ihn ersetzen. Er ist prallvoll, es wäre schlimmer, ihn zu verlieren als mein iPhone. Leider fängt er langsam an, auseinanderzufallen – jedes Jahr, wenn ich eine neue Agenda einlege, denke ich an Ersatz, aber ich bringe es nicht über mich, dieses mit mir gealterte Teil zu ersetzen. Das ist wie mit einem Ehemann, mit dem man soviel geteilt hat, dass man es nie fertigbringen würde, ihn gegen ein jüngeres und moderneres Examplar einzutauschen.

  • Jacques Tati sagt:

    Praktisch an diesem Filofax sind auch, besonders unterwegs, die Karten und die Uebersicht über gute Wein-Jahrgänge…
    Ausserdem muss man ihn nie nachladen, was eben auch praktisch im Urwald wäre…

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