Frauen, Männer und Manieren

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Es ist eine weitverbreitete Vorstellung, dass der moderne Mann keine Manieren mehr habe. Dass der Gentleman zu einer aussterbenden Art gehöre. Er war zwar weiter entwickelt als Neandertaler und Cro-Magnon-Mensch, der Gentleman, aber fürs Überleben in unserer herrlich beschleunigten Zeit womöglich nicht ausgebufft genug. Dazu ist dreierlei festzustellen. Erstens: Nicht nur Männer werden ruppiger, sondern auch Frauen. Zweitens, und unabhängig davon, sind tadellose Umgangsformen und ritterliche Höflichkeit bloss ein notwendiges, aber kein hinreichendes Kriterium für einen Gentleman. Die grundlegende Gentleman-Qualität ist seit jeher eine andere, nämlich: Souveränität. Echtheit. Gelassenheit. Drittens (und damit zusammenhängend): Es ist gar nicht so, dass Männer nicht mehr wüssten, was sich gehört. Die Unsicherheit des modernen Mannes bezieht sich weniger auf die Umgangsform zwischen den Geschlechtern als vielmehr auf die mögliche Reaktion der emanzipierten Frau, die vielleicht gar nicht mehr als «Dame» begriffen werden möchte, auf ebendiese Form des Umgangs.

Jedenfalls hört man Herren klagen, ihr Dilemma bestehe darin, entweder als ruppig und unhöflich zu gelten oder zu riskieren, dass ihr Türenaufhalten oder In-den-Mantel-helfen als Zeichen eines obsoleten Küss-die-Hand-Sexismus missbilligt werden könnte. Doch wer so denkt, macht die Entscheidung über Manieren von der mutmasslichen Aufnahme derselben abhängig. Das ist genau der falsche Ansatz, denn dahinter steht die Auffassung von Manieren als Mittel zum Zweck. Wirklich gutes Benehmen jedoch ist, wie jede Tugend, zweckfrei – jedenfalls quasi im kantischen Sinne, also mit Blick auf Zwecke, welche die eigene Person betreffen. Sinn und Ziel von Umgangsformen ist es vielmehr seit Beginn der Zivilisation, mögliche Unannehmlichkeiten für seine Mitgeschöpfe auf jenes absolute Minimum zu reduzieren, das einfach davon herrührt, dass der Mensch nicht alleine auf der Welt ist.

Was heisst das für den modernen Mann? Ganz einfach: Es geht um Authentizität. «Sicherheit» gewinnt man nicht durch das sklavische Befolgen irgendwelcher Regeln (trotzdem ist es schön, ein paar Regeln zu kennen). Es geht bei der guten Umgangsform immer mehr um gebildete Intuition als um Regelwissen, und deshalb gibt es streng genommen auch kein «richtiges» und «falsches» Benehmen, sondern nur gutes und schlechtes (sowie mittelgutes, was, wie jede mittlere Kategorie, stets am langweiligsten ist). Und «Sicherheit» bedeutet bei Manieren nicht: «garantierter Erfolg», sondern: Sicherheit seiner selbst, Geist, Witz und Stärke. Männer mit diesen Eigenschaften sind attraktiv, und deshalb können übrigens auch nachlässige Manieren sexy sein. Wenn sie souverän wirken. Aber dafür muss man so cool sein wie Frank Ocean.

Und was heisst das für die moderne Frau? Dass auch sie nicht von der Form entbunden ist. Wer nicht wie ein entmündigtes Püppchen behandelt werden will, darf sich auch nicht so aufführen. Die Verpflichtung zu Rücksicht, Anerkennung und Entgegenkommen sind Dogmen des guten Tons, die für jedes Geschlecht gelten – für Männer, Frauen, Judith Butler.

Im Bild oben (v. l.): Daniel Craig, Dame Judi Dench, Herzogin Camilla und Prince Charles an der Premiere des Bondfilms «Skyfall» in der Royal Albert Hall in London, 23. Oktober 2012. (Reuters/Kirsty Wigglesworth).

40 Kommentare zu «Frauen, Männer und Manieren»

  • Hannes Müller sagt:

    Passend und gut formuliert. Jedoch bin ich der Meinung, dass emanzipierte Frauen den Gentleman sehr schätzen. Anders ist das mit Frauen, die sich für emanzipiert halten, aber bloss grob sind.

    Noch ein Buchhinweis: Der Gentleman: Plädoyer für eine Lebenskunst [Taschenbuch]
    Martin Scherer

  • Romano Adrian sagt:

    Die Reaktion bzw. „Gegenpartei“ ist eigentlich irrelevant; um es kurz zusammenzufassen:

    Falsch: etwas tun oder lassen um ein Gentleman zu sein

    Richtig: etwas tun oder lassen weil man ein Gentleman ist

    • Sibylle Geitlinger sagt:

      Dieses Votum ist eine Wohltat. Das Gros der Blog-Kommentatorinnen und Kommentatoren scheint hier den Gentleman in seiner Relation zum und Interaktion mit dem weiblichen Geschlecht zu definieren. Wer aber dem anderen Geschlecht den Balz macht (wie leider mitunter gentleman-likes Verhalten missinterpretiert wird), dem eigenen Geschlecht aber unhöflich begegnet, ist doch nie und nimmer ein Gentleman. Der Lackmustest: Er hält auch einem Mann die Tür auf. Jedem Mann. So einfach ist das – und ebenso selten.

  • Gerda Schuurman sagt:

    Gentleman sein, Lady sein oder nicht ist eher ein Charakterfrage. Man irrt denn auch, wenn man glaubt, dass es der Gentleman oder die Lady nur in der gehobene Gesellschaftschicht gibt. Ich kannte mal eine Lady die war Kassiererin bei der Migros und ein Gentleman der Briefträger war. Dann lernte ich ein Hochintellektuller kennen, der war Fabriksarbeiter. Er las die Werke unsere Grossen: Goethe, Jung, Max Frisch, Sartre, Zola etc. etc.Er hatte nie an einer Uni studiert.

  • Gerda Schuurman sagt:

    Wenn ich die Kommentare lese gibt es viele die eine etwas eigenartige Vorstellung vom Begriff Lady und Gentleman haben. Sie beziehen es immer auf die Eroberung/ Beeindrückung des anderen Geschlechtes. Der Beitrag/ Erklärung von „Grace“ finde ich imponierend. Danke Grace.

  • Onurb sagt:

    Gibt es heute noch Damen und Herren oder ausschliesslich Männer und Frauen? „Savoire vivre“ beschränkt sich heute darauf, eine Champagnerflasche richtig öffnen zu können und mit möglichst allen Luxus-Labels auf vulgäre Art zu zeigen, dass man zum „smart set“ gehört. Wer kennt heute noch Begriffe wie „Contenance“ als Zentralbegriff der Manieren oder „facia strada“, „old gentleman black bottom“.u.v.a
    Die Manieren eines Gentelman’s der alten Schule sind keine, in Kursen zu erlernende Formsache und gar nicht mehr gefragt von der Mehrheit der Frauen, die vergessen haben Frau zu sein. Schade.

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