Notfalls zurückschlagen

bm

Vergangene Woche machte der Fall einer Jugendbande Schlagzeilen, die im Jahr 2010 ein 14-jähriges Mädchen missbraucht und sie zu sexuellen Handlungen gezwungen hatte. Über Monate hinweg. Erst nach über einem Jahr kam die Polizei dem Treiben dank eines anonymen Tipps auf die Schliche. Nun wurden die Täter verurteilt.

Mich macht das sehr wütend. Und es stellen sich viele Fragen. Die Täter, die vorwiegend aus Ex-Jugoslavien stammen und zur Tatzeit zwischen 13 und 17 Jahre alt waren, wurden zu bedingten Freiheitsstrafen und Arbeitsleistung verdonnert, was kaum abschreckende Wirkung haben dürfte. Wen attackieren sie wohl als nächstes?

Und wie kann es überhaupt zu solchen Verbrechen kommen? Die Medien und ihr Publikum begründeten das Ganze mit der patriarchalen Kultur, aus welcher die Täter stammen. Was zutreffen mag, wir aber leider nicht ändern können. Und dann gibt es noch die andere Seite: Was ist eigentlich bei uns los, dass so etwas möglich ist? Wie werden Mädchen hier sozialisiert, dass sie das mit sich machen lassen – und zwar über Monate hinweg?

Es geht hier nicht darum, dem Opfer Schuld anzulasten. Vielmehr frage ich mich, welche psychosozialen Faktoren und welche gesellschaftlichen Voraussetzungen solche Übergriffe ermöglichen. Im Gespräch mit Fachleuten hat sich Folgendes herauskristallisiert: Sexualität ist für heranwachsende Frauen zwar ein wichtiges Ausdrucksmittel, auch wenn sie kaum verstehen, was sie da genau signalisieren. Mütter mit Töchtern im Teenageralter sehen das täglich. Mit dem Einsetzen der Pubertät brauchen die Girls plötzlich nichts dringender als High Heels, BHs und Schminke, man will ja schliesslich Frau sein. Und zwar richtig. Paradoxerweise beginnen sie sich gleichzeitig für alles mögliche zu schämen, besonders dafür, was mit ihnen geschieht und was sich verändert: der Körper, die Gefühle, die Sexualität, die soziale Rolle. Darüber zu sprechen ins unangenehm.

Für ein pubertierendes Mädchen ist der Körper so etwas wie ein scheuendes Pferd, das unkontrolliert durch den Acker galoppiert, während die Seele damit beschäftigt ist, sich am Sattel festzukrallen – an Kontrolle ist kaum zu denken. So war es zumindest für mich. Hinzu kommt der immense soziale Druck der Peer Group, den anderen Jungs und Mädchen, die Umfeld und Resonanzkörper für die eigene Entwicklung sind. Sexualität ist darin eine wichtige Währung und funktioniert tatsächlich ein bisschen wie Geld. Man braucht das System nicht zu verstehen und weiss trotzdem ganz genau, dass es funktioniert. Und wenn plötzlich alles ausser Kontrolle gerät, ist es am einfachsten, den Fehler bei sich selbst zu suchen.

Dabei sind die Katastrophen eigentlich systemimmanent. Es gibt kaum eine Frau da draussen, die nicht mindestens einmal in eine übergriffige Situation geraten ist – und damit meine ich nicht einfach anzügliche Bemerkungen. Oft ist es nur Glück, dass nichts wirklich Schlimmes passierte. Die meisten erzählen später auch niemandem davon. Denn es ist beschämend, auch deshalb, weil man im Nachhinein besser versteht, wie es dazu kam. Und wer will schon Opfer sein?
Aber ist das richtig?

Wenn wir davon ausgehen, dass auch in Zukunft Menschen aus patriarchal geprägten Kulturen hierher kommen und hier leben werden, haben wir nur eine Wahl: Wir müssen dem etwas entgegensetzen. Wir müssen unsere Mädchen stärken. Ihnen beibringen, sich zu wehren. Sie in ihrer sexuelle Integrität stärken. Ihnen einbläuen, dass sie sich nicht zum Opfer machen lassen dürfen. Dass sie aufstehen, die Täter anzeigen und zur Verantwortung ziehen sollen. Von mir aus auch zuschlagen, Hauptsache handeln.

Gesellschaftlich gibt es aber noch eine zweite Aufgabe. Wir müssen uns als Kultur unmissverständlich zur Gleichstellung bekennen. Vor dem Hintergrund des Falls Reiden würde dem wohl kaum jemand widersprechen. Anders sieht es aus, wenn es unseren Alltag betrifft. Dies zeigten zuletzt die Reaktionen auf den Fall Brüderle und die Sexismus-Debatte, die eine beschämende Doppelmoral zutage förderte. Zahlreiche Kommentatoren und anonyme Internet-Hater witterten sofort eine Verschwörung gegen die Männer und meinten, die Frauen sollten sich mal nicht so anstellen. Man stellte die Glaubwürdigkeit der Betroffenen infrage und machte sich lustig.

Bis heute. Zuletzt wäre da der Kolumnisten Helmut-Maria Glogger vom «Blick am Abend» zu nennen. Vergangenen Donnerstag entblödete der sich nicht, Birgit Schrowange zu verhöhnen, weil sie bekannt gegeben hatte, als junge Frau «begrabscht, befingert und sexuell belästigt» worden zu sein – wie ja «eigentlich jede TV-Frau», so analysierte Glogger scharfsinnig. Man darf sich ernsthaft fragen, ob dieser Mann mit einem Blumenkohl anstelle eines Gehirns ausgestattet wurde. Er, der kein Problem damit hat, «Sex-Monster» anzuklagen, zieht mit diesen Worten Frauen ins Lächerliche, welche Übergriffe benennen und jungen Mädchen damit zeigen: Lasst das nicht mit euch machen!

Gloggers Kommentar steht für alle diese Kommentare. Sie sind erbärmlich, heuchlerisch und widerlich. Denn wenn wir wehrhafte junge Frauen wollen, müssen wir ihnen zeigen, wie es geht. Wer darin nur die narzisstische Kränkung seines eigenen patriarchalen Selbstbildes erkennt, ist auch nicht viel besser, als die Täter von Reiden.

Bild oben: Jennifer Lawrence als Katniss in «The Hunger Games» (2012).

57 Kommentare zu «Notfalls zurückschlagen»

  • kaya sagt:

    im büro ist klar, wenn jemand admin oder assistenz machen muss, dann nimmt man eine der frauen. egal wie erfahren und für was sie eingestellt wurde… dann die sexuellen belästigungen. es ist tatsache, dass wohl jede frau schon seltsame bis bränzlige situationen erlebt hat. leider ist der sexismus immer noch täglich brot. im job und im privat leben. jedoch! diese jungen mädels von heute regen mich auf. es wird gesoffen, nackte haut gezeigt in massen und man macht bei allem mit. schlussendlich machen die kaput was wir und unsere mamis geschafft haben. diese hüschis und ihr benehmen nerven mich!

  • Stefan Bisig sagt:

    Nein, das Hauptproblem ist nicht die Herkunft aus patriarchalen Verhältnissen, sonst gäbe es mehr Vergewaltigungen in diesen Ländern. Das Hauptproblem ist unsere Justiz, die Sexualverbrecher – gleich welcher Herkunft – für Übergriffe, die oft während Jahren andauern und im Opfer jedes Selbstvertrauen abtöten und so oft dessen Leben eine fatale Richtung geben, mit lumpigen, meist bedingten oder teilbedingten Ministrafen davonkommen lassen. Die unbedingte Haftstrafe muss m.E. mindestens so lange dauern, wie das Martyrium des Opfers.

  • Heinz sagt:

    Sorry Frau Binswanger, ihre Vorschläge sind naiv. Schon in späten 90er Jahren durften wir die gewaltigen Argumente der (j)ungen (u)ngebildeten (g)ewaltätigen (O)steuropäer erfahren. Die CHer konnten am Anfang dem nichts entgegensetzen. Die einzige Sprache was sie verstanden haben war massive Gegengewalt aber das kann es ja nicht sein! Die Resultate sind auch Ihnen bekannt, die körperliche Gewalt hat seither zugenommen und die Hemmschwelle dazu sinkt allgemein. Sie nennen dies eine patriarchale Kultur, für mich kommt noch die „Stolz und Ehre-Mentalität“ mit einer materiellen Kultur hinzu.

  • Alain Müller sagt:

    Sorry, aber verstehe Ihren Kommentar überhaupt nicht. Meine Generation (1963) hat schon im Kindergarten gelernt, dass man Mädchen respektiert und nicht „abschlägt“. Heute öffnet meine Generation den Damen die Türen und zeigt sich auch sonst zuvorkommend. Aber jeder Generation (und Herkunft) das ihrige. „The past is a foreign country: they do things differently there.“ (L. P. Hartley). PS: Zürich hätte sonst ein Mannebüro.

  • Fischer sagt:

    Na klar wird in den Balkanstaaten nicht mehr vergewaltigt als hier. Diese Mädchen werden von Brüdern und Vätern bewacht und geschützt. Aber schweizer Mädchen sind für diese Jungs nur bitch und werden sicher nicht geheiratet. Die Frau fürs Heiraten sollte dann schon Jungfrau und ehrenhaft sein. Das ist Rassismus und macht mich wütend. Wie genau schützen wir unsere Mädchen?

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