Was ist Freiheit?

Margaret Thatcher ist nicht mehr. Sie wissen, meine Damen und Herren, dass Mrs T eine Ikone der Freiheit für mich war und ist. Und sie stand und steht uns nahe. Die Schweiz hat a priori in ihrer Eigenart und Skepsis viel mehr mit dem angelsächsischen Modell der Geschichts- und Zukunftsbetrachtung gemein als mit dem kontinentaleuropäischen; sie ist das Land auf dem Kontinent, in dem die Freiheit des Einzelnen am stärksten ausgebaut ist, und wenn zum Beispiel das Vereinigte Königreich und die Schweiz aufgrund ihrer eigenwilligen Stellung in Europa (man könnte auch sagen: aufgrund ihrer splendiden Isolation) gelegentlich verglichen werden, so wird doch selten bis gar nicht die Verwandtschaft angesprochen, die hinter diesem Phänomen steht: das Vertrauen auf das Individuum als Träger der Freiheit, zu dem auch das Vertrauen auf den Markt als dem freiesten Zuteilungsmechanismus für Ressourcen gehört. Es gibt keinen freien Markt ohne freie Individuen, und Marktvertrauen gehört zur Tradition des angelsächsischen Kulturraums ebenso wie zur Tradition der Schweiz als vielgestaltiger Willensnation, die die zusammenhaltende Kraft des Marktes auch als Kommunikations- und Verständigungsmechanismus erlebte und erlebt. Dieses Marktvertrauen geht einher mit einer Pflege privater Wirtschaftsformen und -freiheiten und dem hohen Stellenwert von individueller Mobilität. Und aufgrund dieser Traditionen können gerade von der Schweiz wichtige Impulse für einen neuen europäischen Liberalismus ausgehen. Könnten. Stattdessen aber scheinen wir in die andere Richtung zu laufen, billigen Feindbildern und Klischees hinterher, gegen vermeintliche «Abzocker» und für Vorschriften und Reglementierungen in allen Bereichen, die den Staat nichts angehen, und gegen die Gleichheit aller Bürger, inklusive Homos, vor dem Gesetz. Das ist falsch und freiheitsfeindlich.
Der Markt ist unser Freund
Wir brauchen wieder Vertrauen und Zuneigung zum Markt. Der Markt ist kein Monster, ich sagte es schon. Er ist unser Freund. Wir verdanken ihm viel, und wir sollten pfleglicher mit ihm umgehen. Der Markt ist immer noch derjenige Zuteilungsmechanismus für Ressourcen, der dem Einzelnen die grösstmögliche Freiheit und Entfaltung garantiert; getreu dem Diktum Oswald von Nell-Breunings: Die moralischste Wirtschaftsordnung ist diejenige, die mit dem geringsten Anspruch an die Moral des Einzelnen auskommt. Der Markt ist, wie Friedrich von Hayek gesagt hat, ein Entdeckungsverfahren, das System der Ressourcenallokation mit der höchsten Effizienz und Dynamik, genau wie die neoklassische Wirtschaftstheorie diejenige Disziplin ist, die menschliches Verhalten mit einem Minimum an ideologischer Untermauerung erklären kann. Der Markt ist grundsätzlich selbstregulierend, trägt allerdings unter bestimmten Voraussetzungen eine Tendenz zum Versagen in sich (wie wir alle), und diesfalls werden Regeln benötigt, wie sie beispielsweise das Gesellschaftsmodell des Ordoliberalismus ja vorsieht. Dieses Modell ist nicht wertneutral; es weist dem Staat klare Grenzen zu und schätzt die Autonomie des Einzelnen. So entstand jene politische Kultur, wie sie der Westen hervorgebracht hat: ein auf Realismus, praktischer Klugheit und Weltläufigkeit gründender politischer Humanismus (im angelsächsischen Raum würde man sagen: Konservatismus).
Dieser liberale Konservatismus – oder, vielleicht noch besser: konservative Liberalismus – basiert auf der Einsicht in die Unzulänglichkeit der menschlichen Vernunft. Er schätzt die konkrete Anschauung und aus der Geschichte gewonnene Erfahrung im Unterschied zum Primat einer bloss theoretischen Systematik, die Vielfalt des historisch Gewachsenen im Unterschied zur abstrakt-uniformen Textbuch-Glückseligkeit für alle. In diesem Sinne könnte es auch überhaupt nicht schaden, wenn die ideologisierten Neukonservativen sich zurückbesönnen auf klassische Denker des Konservativismus wie Burke und Hayek, von denen sie lernen können, dass die Welt komplex ist und jede Politik als Versuch der Weltänderungen stets auch unbeabsichtigte Konsequenzen hat, die meisten davon unerwünscht. Und dass der Staat keine Tugendanstalt sein kann. Sein darf.
Die Qualitäten der Stiff Upper Lip
Apropos Tugend: Die Wichtigkeit des Zweifels als konservativer Tugend bedeutet nicht, dass man auf Prinzipien oder Überzeugungen oder Optimismus verzichten müsste, im Gegenteil, die Betonung liberaler Werte gerade gegen neo-autoritäre Gesellschaftsentwürfe entspringt aus Prinzipien. Sie entspringt einer nüchtern-pragmatischen Weltsicht, in der sich eine leise Melancholie mit der Liebe zu jener existenziellen Komik verbindet, die in der Permanenz des Menschlichen liegt, und für diese Haltung gibt es ein Wort: Ironie. Ein ironischer Liberalismus ist das einzige Mittel gegen die Ungleichzeitigkeit von Technik und Moral. Es ist dies nicht zuletzt jene Ironie der Reserve, von politeness and moderation, diesen kardinalen englischen Tugenden, den Qualitäten der Stiff Upper Lip, womit das Leitbild eines viktorianischen Stoizismus bezeichnet wird, der angesichts von Widrigkeiten und Unwägbarkeiten eine gewisse Unerschütterlichkeit bewahrt: eine Stärke, in der nichts Martialisches liegt, sondern reine Zivilisiertheit. Frau Thatcher, die eiserne Lady, hat jene Unerschütterlichkeit verkörpert wie wenige sonst. Diese Stärke wird manchmal mit Repression, Verdrängung, Gefühlsabtötung verwechselt, doch das ist sie nicht; sie ist, vielmehr: Bescheidenheit, Understatement, Ernsthaftigkeit – und zugleich: die ironische Akzeptanz und Bejahung jener Absurdität, die das Menschsein bedeuten kann.
Die klassische Vorstellung der Stoiker, dass wir einen bestimmten Platz in der Ordnung der Welt einnehmen, den wir auf bestmögliche Weise auszufüllen aufgerufen sind, ist ein zutiefst ironisches Konzept. Denn es geht ja um nichts anderes als um die Vermittlung zwischen den Sphären des Lebens und des Geistes, zwischen Bestimmung und Gestaltung – und um die resultierende konservative Tugend der Gelassenheit. Gelassenheit ist kein Loslassen, kein passives Erdulden, sondern eine Form der Tüchtigkeit und Lebenstüchtigkeit, die Bejahung der Schicksalsvorgaben und des individuellen Freiheitsanspruchs. Nur so kann der Mensch sich treu und doch flexibel bleiben in der ewigen Spannung zwischen der Hegelschen Anerkennung durch die anderen und dem eigenen Identitätsanspruch; die Ironie bewahrt ihm die Freiheit zur Selbstkritikfähigkeit einerseits und zur Konsequenz auch gegen Widerstände andererseits. Die essenziell gegen die Französische Revolution und gegen Napoleon ausgebildete angelsächsische Tugend der Stiff Upper Lip, deren mentale Versatzstücke auch heute noch ein grundlegend englisches Verhaltensmuster repräsentieren, – ist eine konservative Haltung der Welt gegenüber. Ihre Gelassenheit und massvolle Gleichmut sind nicht kaltherzig und gefühllos; es geht nicht um Stumpfheit und Teilnahmslosigkeit, sondern um Souveränität und Authentizität. Wie in den beiden bekanntesten dichterischen Evokationen der Stiff Upper Lip: dem Poem If— von Rudyard Kipling und W. E. Henleys Gedicht Invictus, Testamente des konservativen Geistes, Dokumente menschlicher Hoffnung und Monumente der Unbeugsamkeit im Streben nach Autonomie:
I am the master of my fate:
I am the captain of my soul.
Das ist das Credo des Liberalismus. Und zum Glück hat es immer Zeitgenossen gegeben, die wussten, dass Autonomie ohne Ironie nicht auszuhalten ist. Jene Ironie, die einen ihrer unerreichten Meister, den Dichter Thomas Mann, einen zutiefst konservativen Menschen, feststellen liess: «Konservativ? Natürlich bin ich es nicht; denn wollte ich es meinungsweise sein, so wäre ich es immer noch nicht meiner Natur nach, die schliesslich das ist, was wirkt.»
R.I.P. Mrs. T.
Im Bild oben: Die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher spricht vor einer Versammlung der Konservativen Partei in Blackpool, 9. Oktober 1985. (Keystone)
27 Kommentare zu «Was ist Freiheit?»
Interessant, die Inselgesellschaft Britanniens als liberal zu bezeichnen, wo sie doch die „Einwilligung auf Körperverletzung“ nicht kennt und somit S und M verboten sind. Nicht nur in Theorie, sondern in Praxis, wenn man den Spanner Case als Beweiss gelten lassen will (vgl. Wikipedia).
Freiheit und Selbstbestimmung scheint kein hohes Gut für die meisten Kommentatoren hier zu seiin. Man scheint vielmehr der Überredung durch die veröffentlichte Meinung zu unterliegen, o.g. Werte würden zu Ungerechtigkeiten führen, die es durch sozialistische Umtriebe und damit verbundenen Freiheitsbeschränkungen und Verboten jedwelcher Art zu unterbinden gilt. Diese Leute werden aus ihrem gerechtigkeitsbesoffenen Rausch erst aufwachen, wenn bei uns längst die DDR 2.0 im ganzen Land „erblüht“ ist……
Ihrer Logik folgend wäre selbst jeder Mitte-rechts-Denkende, der erkannt hat, dass eine Gesellschaft ohne jeglichen sozialen Ausgleich früher oder später an ihrer Ungleichheit kollabieren wird, oder dass gänzlich unkontrollierte Märkte mittelfristig noch nie in der Geschichte der Menschheit zu Erfolg für die ganze Gesellschaft geführt haben und dies auch nie tun werden, also schon fast ein verkappter Kommunist? Die in der DDR aufgewachsene Angela Merkel würde dann also einer neuen DDR das Wort reden? Das klingt doch reichlich absurd, was Sie schreiben.
Werter Herr Tingler, man muss beileibe nicht studiert haben, um ihr wirtschaftsliberales Geblubber als solches zu erkennen. Schwach regulierte Märkte in Ehren, aber bitte was soll sein mit denen, die nicht mithalten können und wollen? Eine Gesellschaft muss sich am Umgang mit denen messen lassen, die nicht ins Muster passen, die nicht die Hauptlast stemmen können und die nicht das Lied der Mehrheit singen. Die Politik von Frau Thatcher und Ihresgleichen ist Gift für den sozialen Frieden, den Service Public und jegliche Vernunft in Fragen der sozialen Gerechtigkeit.
Margaret Thatcher über Augusto Pinochet: „I’m also very much aware that it is you who brought democracy to Chile, you set up a constitution suitable for democracy, you put it into effect, elections were held, and then, in accordance with the result, you stepped down.“ Das sagt wohl alles über diese Frau. Ausserdem ist Chile ein Musterbeispiel dafür, wie eine Liberalisierung des Bildungssystems Menschen aus einkommensschwachen Familien ausschliesst.