Hört auf mit euren Shitstorms

BlogmagMath3

Ich liebe das Internet, aber unsere Beziehung war auch schon mal besser. Ja, in letzter Zeit kommt es mir ein bisschen vor wie eine nervige Freundin. Immer so aufs Detail versessen, dass man das Ganze aus dem Blick verliert. Dafür terrorisiert sie dich so ausufernd mit diesen Details, bis du sie vor lauter Überdruss gar nicht mehr ernst nimmst und das, was sie erzählt auch nicht. Ja, du verstehst es nicht einmal, weil sie so schnell ins Spucken und Geifern gerät, dass es dich anwidert. Und dann ist sie flatterhaft, heute hier und morgen schon weg, nichts kann sie vertiefen, eine richtige Schlampe, dieses Internet.

Da hatten wir zum Beispiel den #Aufschrei. Frauen wollten mit Tweets den alltäglichen Sexismus sichtbar machen, den jede Frau im Laufe ihres Lebens erfährt. Gute Idee. Weniger gut war die Idee, das Ganze #Aufschrei zu nennen, denn es wird allgemein zu viel herumgeschrien im Internet, so dass bald gar niemand mehr zuhören will, man sich nur noch lustig macht und sich schliesslich kollektiv von Themen abwendet, die man eigentlich im Auge behalten sollte.

Da haben wir zum Beispiel den Fall Otto. Der Versandhändler hatte die famose Idee, ein T-Shirt für Mädchen mit dem Aufdruck «In Mathe bin ich Deko» ins Angebot zu nehmen. Doch das passte dem Internet nicht. Die Leute machten ihrem Unmut auf der Facebook-Seite von Otto Luft. Das T-Shirt sei «bescheuert, reaktionär, chauvinistisch und sexistisch hiess es da. Man rief zum Boykott auf. Die Piratenpartei nutzte die Gunst der Stunde und schrieb einen offenen Brief an den Versandhändler. Das T-Shirt sei ein «klassisches Beispiel für Diskriminierung und Alltagssexismus, wie ihn Frauen täglich erfahren müssen», hiess es da. Unterschrieben hatten den Brief zehn Männer und eine Frau.

Nun ist ein solches T-Shirt tatsächlich doof. Aber macht dieses T-Shirt aus dem Versandhaus Otto wirklich die Speerspitze von Sexismus und Diskriminierung von Frauen im Alltag? Ist es diese Art von Diskriminierung, die uns Frauen zu schaffen macht? Nun, ich wage zu behaupten, dass das nicht so ist. Und sowieso, dieser schreckliche Fall von Alltagssexismus ist nicht auf Mädchen beschränkt. Otto hat nämlich auch ein entsprechendes Shirt für Jungen im Angebot. Darauf steht: «Ich denke, bitte warten.» Oder: «Mathe-Allergiker». Was machen wir jetzt damit? Werden da nicht auch Gender-Klischees gepflegt? Und wenn wir gerade bei Gender-Klischees in der Mode sind: Müsste man nicht auch rosarote Kleider verbieten und allzu kurze Röcke, ja Röcke überhaupt, sollten wir nicht anfangen, alle Unisex-Uniformen zu tragen, um jegliche Gender-Stereotypen gleich im Keim zu ersticken?

So löblich ich es finde, dass die Gesellschaft sich auf entsprechende Fragen sensibilisiert, so gilt es doch, die Relationen zu wahren. Können wir Sexismus nicht dort aufzeigen, wo er wirklich schädlich ist? Sexismus geht von handelnden Menschen aus und Menschen müssen sich handelnd dagegen wehren. Handeln aber heisst, mit Menschen interagieren und nicht, vom Bürostuhl aus anonyme Hassbotschaften in die Welt zu senden. Wenn eine Mutter oder ein Vater den lieben langen Tag am Computer sitzt, sich über irgendwelches Zeug aufregt und wütende Kommentare schreibt, während das Kind vor der Glotze hängt und sich Waschmittelwerbungen reinzieht, auf denen Frauen von ihrer strahlend weissen Wäsche und ihrer tollen Verdauung schwärmen und Männer in schnellen Sportwagen herumbrausen, dann läuft etwas falsch. Wenn man wegen jeder Gender-Stereotypie-Bagatelle wie dem Otto-T-Shirt einen solchen Aufstand veranstalten würde, dann würden die ganze Welt noch heute in einem gigantischen Mega-Shitstorm untergehen.

Am schnellsten verschwinden alte Gender-Stereotypien, wenn neue Rollen vorgelebt werden. Mütter sollten sich, statt sich über ein doofes T-Shirt aufzuregen, ihre Töchter lehren, dass sie ein Hirn haben und einen Anspruch auf einen eigenen Platz in der Welt – und nicht bloss auf einen an der Seite eines Mannes. Und wenn es die Väter sind, welche am Feierabend noch schnell fehlbare Modeunternehmen anprangern müssen, sollten diese vielleicht lieber ihren Söhnen zeigen, dass ein richtiger Mann auch exzellente Spaghetti kochen kann. Ist doch wahr.

Oder was meinen Sie?

Im Bild oben: Bildschirmfoto und Montage mit Kinder-T-Shirts auf der Otto-Webseite. (Quelle: Otto.de)

16 Kommentare zu «Hört auf mit euren Shitstorms»

  • Anh Toan sagt:

    Ich empöre mich, also bin ich.

  • Pierrot sagt:

    Das Medium wird doch sinngemäss oder vielleicht vielmehr wie zu erwarten genutzt?… Anstoss-Artikel-basiert, unstrukturiert, unmoderiert, frei zugänglich, asynchron, es ist eine Pinnwand keine Diskussionsrunde. Vielleicht wäre eine Weiterentwicklung zu einer (temporär moderierten) Diskussionsplattform interessant, was allerdings den Job etwas ändern würde, aber potenziell interessantere Inhalte generieren würde…? Oder wenn genug konstruktive Kommentare vorhanden sind, diese als neuen Artikel recyceln und die Diskussion erneut anstubsen…

  • Carl sagt:

    Man schaue doch mal nach Indien und sehe wie wenig sich verändert, wenn Horden aufgebrachter junger Männer marodierend durch die Strassen ziehen.
    Und da gibt es tatsächlich Leute die glauben, ein bisschen twittern verändere die Welt..

  • Joerg Hanspeter sagt:

    Sie sprechen mir aus der Seele. Diese Überempfindlichkeit, alles ist irgendwie sexistisch. Die Schweiz war ja früher politisch korrekt, man sagte und schrieb „das Bleistift“. Inzwischen führt die Germanisierung zu „der Bleistift“. Oh Gott, was da wieder alles hineininterpretiert werden kann. Und was mir noch mehr auf die Nerven geht, sind Männer die dauern jede Kleinigkeit als sexistisch gegen Frauen anmeckern müssen. Lasst das doch die Frauen selber machen, die sind ja im Allgemeinen nicht gerade als die grossen Schweiger bekannt.

  • Frank Baum sagt:

    Hier wurde der Nagel auf den Kopf getroffen. Wir leben in einer Informationsflut, wo aus jeder Fliege ein Elefant werden kann. Die Perspektiven gehen verloren und die wahren Probleme werden überspielt. Am Schluss ist die TRansparenz geringer als vorher.

    • Reto B. sagt:

      Da hat die Speerspitze des Blogfeminismus aber mal echt ins Schwarze getroffen! Aber was will man erwarten in einer Gesellschaft, in der keiner dem Arsch im Tram die Meinung geigen will, aber danach alle ihren Kollegen das Leid klagen, wie übel die Welt doch geworden ist. Alles flucht auf die Gesellschaft, doch keiner will seinen Anteil daran infrage stellen. Man sollte… blablabla

    • Pierrot sagt:

      Inwiefern unterscheidet sich diese Informationsflut vom Alltags-Stammtisch-Geschnatter? Das geschriebene Wort wurde freier, interaktiver und öffentlicher; an und für sich nicht schlecht. Aber wie wird es inszeniert und genutzt? Sprich, Inhaltsanbietende und Nutzende sind beide verantwortlich für Shitstorms; je nach Anbieter ist ein grosser Nutzen wohl Kundenbindung und Präsenz, die mit emotionaler Note einfach viel besser funktioniert. Die Schnelllebigkeit wird generell gefördert.
      Das Geschnatter schliesst keine Handlungen aus; sind nicht zu verwechseln.
      Spaghetti, igidi-gidi-gitt… I refuse.

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