Tulpenstrauss Gabi

Aww, die 50s! Neulich habe ich im «Vanity Fair» gelesen, dass die Fünfzigerjahre des letzten Jahrhunderts kontinuierlich und hartnäckig falsch beurteilt würden, nämlich als verklemmte, biedere, bigotte Dekade. Während sie in Wahrheit eine Blüte- und Aufbruchszeit in Literatur und Kunst waren. Nun, das schliesst sich ja nicht aus, im Gegenteil, beinahe möchte man sagen: Es bedingt einander – ohne die Doppelmoral und Repression hätte es keine Gegenbewegung der Künste gegeben. Und heute? Naja, die Triebkräfte der höheren Kulturen beruhen massgeblich auf dem Willen zur Selbsterhaltung und Selbststeigerung, hat Herr Sloterdijk neulich irgendwo gesagt, Sie wissen schon, der Philosoph und leidenschaftliche Radfahrer, der übrigens bei dieser Gelegenheit gleich noch die kategorische Steigerungslogik mit der spätmodernen Leistungsgesellschaft verknüpfte. Übrigens war Sloterdijk auch mal leidenschaftlicher Bhagwan-Jünger, wie ich gerade wieder bei Wolfgang Müller gelesen habe, in dessen etwas seltsamem doch irgendwie reizendem Werk «Subkultur Westberlin 1979 – 1989», was ich mit Freude studiere, aber vielleicht auch nur, weil es mich an früher erinnert und ich eintausend Jahre alt bin.
Wie dem auch sei: Die Gegenwart schrumpft und wird zugleich pointiert und verdichtet sich auf eine infinitesimale Aktualitätsspitze, oder, wie es der Soziologe Hartmut Rosa ausdrückte: Man steht überall auf rutschenden Abhängen, und das erzeugt die Erfahrung von Zeitknappheit, auf die wir mit dem Versuch antworten, die Zahl der Erlebnis- oder Handlungsepisoden pro Zeiteinheit zu steigern, mehr Dinge zu tun oder zu erleben. Das heisst: Alles wird schneller, alles wird nano, die Ungleichzeitigkeit wächst exponentiell, Stabilitätserfahrungen gehen verloren, Provinzler springen aus der Stratosphäre, und in Zeiten des beschleunigten technologischen Fortschritts wird nahezu jeder Lebensbereich den Kriterien der Kontrolle, Berechenbarkeit und Transparenz unterstellt, womit ein neues Menschenbild einhergeht; der Mensch soll perfekte Figur machen in jeder Situation, alles im Blick haben, unaufhörlich berechnen, kommunizieren, mobil sein, ungefähr so wie sein Smartphone, das sich mittlerweile verselbständigt hat, wie der Rest der Dingwelt, anscheinend und scheinbar, und wir haben Nanowunder und Neurowissenschaft und daneben steht – Tulpenstrauss Gabi.
Ja, meine Damen und Herren, andererseits heisst ein Blumenstrauss nämlich immer noch Gabi. Sie sehen ihn oben. Das Foto ist brandaktuell, und trotzdem ist es wie in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts: Gabi. Tulpenstrauss Gabi. Wer ist Gabi? Ein Konstrukt? Gabi ist abwesende Präsenz. Sie erscheint durch die permanente Abwesenheit ihres Körpers, wie Die Tödliche Doris. Der Philosoph Günther Anders hat schon vor Dekaden die These aufgestellt, der Mensch sei eine antiquierte Kategorie, weil er neben den perfekten Dingen nicht bestehen kann, die er selbst geschaffen hat. Und es gibt Leute wie den österreichischen Professor Konrad Liessmann, von dem ich irgendwo las, er sei der Auffassung, diese These von Anders gewinne jedes Jahr in dem Masse an Aktualität, in dem die Sachwelt der technischen Errungenschaften an Potenz gewinne. Liessmanns jüngstes Werk heisst «Das Universum der Dinge: Zur Ästhetik des Alltäglichen».
Aber solange es gleichzeitig auch noch sowas gibt wie Gabi, den Tulpenstrauss, können wir wohl unbesorgt sein, solange haben wir die Kontrolle nicht verloren, und niemand kann mir was von der transzendentalen Obdachlosigkeit der Moderne erzählen. Beziehungsweise: der zweiten Moderne, natürlich. Niemand. Niemand entschleunigt so wie Gabi.
Das Einzige, was mir ein bisschen zu denken gibt, ist, dass Gabi reduziert ist.
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