Hinten anstellen!

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Als ich neulich am Flughafen von Hongkong an der Einreisekontrolle anstand, kam mir wieder zu Bewusstsein, wie recht Jerry Seinfeld hat mit seiner Feststellung, dass es ungehörig sei, wenn Menschen in einer Warteschlange eine Riesendistanz zu ihren Vordermännern lassen. Weil das die ganze Reihe bloss unnötig ausdehnt. Ausserdem wird dann unklar, wo die Schlange anfängt und aufhört, d.h. ihre ganze Struktur wird löchrig und anfällig für Einbrüche. Zum Beispiel durch Leute, die sich – guten Glaubens oder nicht – in diese Lücken stellen statt ans Ende, und das führt dann zu Diskussionen und, ultimately, Chaos. «Society can’t function like this.» Würde Larry David sagen. Dem verdanken wir übrigens den Terminus «Chat and Cut» für eine besonders ruchlose Variante des Schlangenabschneidens.

Womit wir uns schon mitten in Fragen der Ansteh-Etikette befinden. Es ist bitter nötig, dass wir uns einmal damit befassen. Schliesslich werden die Anstehsituationen nicht weniger. Und, wie ich gestern bei Damian Barr gelesen habe: «All queues, even ones that promise to take you somewhere good, are depressing.»

Ein paar Grundregeln hätten wir schon zusammengetragen:

1.) Provozieren Sie keine Riesenlücken in der Schlange, die andere Menschen, die sich anstellen wollen, verwirren könnten.

2.) Sich vorzudrängeln ist immer unmanierlich.

3.) Seien Sie geduldig und respektieren Sie den persönlichen Raum Ihrer Mitansteher.
Aus dem dritten Punkt folgt, dass man Zeichen der Entnervung und Aggression füglich unterlassen sollte, allen voran das intimraumverletzende, drängelnde Viel-zu-nah-Aufrücken an den Vordermann. Es gibt wenig Unangenehmeres als Individuen, die hinter einem in der Schlange stehen und dabei zu nah aufrücken, so dass man ihren Atem im Nacken spürt, wie es mir mit diesem Hünenweib mit Éva-Gábor-Perücke in Hongkong erging (vielleicht war das auch ein übergewichtiger skandinavischer Geschäftsmann mit Flugzeugfrisur – ich konnte den Menschen schliesslich nur aus den Augenwinkeln sehen). «Dieses blonde Spasspaket hinter mir rückt viel zu nah auf», bemerkte ich zu Richie, «auch bei massenhaftem Anstehen sollte doch wenigstens die Intimraumgrenze von 45 Zentimetern respektiert werden.» «Wer bist du denn, Kleines», erwiderte der beste Ehemann von allen, «die Schlangenaufsicht von Chek Lap Kok?»

Ja, in der Tat, ich bin wohl die Aufsicht. Jedenfalls glaube ich an die Grundregel, mit entzückender Prägnanz formuliert von Debrett’s, dieser Institution aus England, dem Mutterland der guten Form und des manierlichen Schlangestehens: «Even in the most disorganised of queues, there will still be an unspoken order.» Und wenn die Ordnung zu entgleisen droht, muss man sie halt spontan wiederherstellen. So wie kürzlich am Flughafen Berlin-Tegel (der ja glücklicherweise noch einige Zeit der Berliner Flughafen bleiben wird), von wo aus ich nach Zürich flog. Bei den Gates von Swiss bzw. Lufthansa gibt es theoretisch zwei Schlangen: eine Fast Lane für First-, Business- und Goldkartenpassagiere und eine andere für die anderen. Manchmal aber gibt es lediglich eine Sicherheitskontrolle für alle und dann natürlich auch nur eine Schlange. Hier nun stellte ich mich auch als Fast-Lane-Berechtigter ordentlich an und versuchte nicht, mich ganz vorne reinzudrängeln. Natürlich hätte ich das tun können. But then, what of our society? Do I wish to be instrumental in its destruction? Nein, stattdessen wies ich lieber die vereinzelten unmanierlichen Geschäftsleute zurecht, die das tatsächlich probierten. Und weil ich selbst Fast-Lane-berechtigt war, war ich dann ausnahmsweise nicht das Monster, sondern Robin Hood. Sozusagen. Ich meine, es geht ja auch darum, wie man sich vorzudrängeln versucht. Oder, in den Worten von Larry David: «I respect your skills. Really.»

30 Kommentare zu «Hinten anstellen!»

  • Dino sagt:

    Schweizer können sich nicht Anstellen, sie bringen es einfach nicht auf die Reihe (pun intended). Oftmals wenn ich in den USA verweile stelle ich mich irgendwo an, ohne was zu kaufen oder zu wollen, sondern nur um zu sehen wie die Leute Schlange stehen können. Diese Ordnung, sowas schönes! Wir Schweizer haben ja eigentlich Ordnung – und Prozeduren, ich mag sowas. Wer weiss vielleicht wird es ein neuer Trend, wenn die Amis schon überall hin gehen um Delfine zu sehen sollten wir in die USA um Schlangen zu sehen… Poststellen haben Schlange stehen ruiniert, mit diesem Nummern ziehen – garstig!

  • Chris Fogg sagt:

    Geht mal als Beispiel nach Indien oder Israel. Da ist Vordrängeln der Standard. Als höflicher zurückhaltender Schweizer kommt man nicht vom Fleck, wenn man die unartigen Manieren nicht übernimmt. Da sind wir in der Schweiz heilig, wenn sich mal einer vordrängelt oder schon in den Zug einsteigt, wenn noch Personen aussteigen wollen.

    • John sagt:

      In Indien ist auch das ganz-nah-Aufrücken standard. Wenn man da zum Vordermann mehr als 5 cm Abstand hat wird das als Lücke verstanden und es wird reingedrängt.

    • Kap Loong Kam sagt:

      Und erst Vietnam!

    • Marlis sagt:

      weshalb vergleichen Sie mit Unzivilierten-?
      Gehen Sie mal nach Spanien (Katalonien): wer zuletzt kommt fragt- „wer ist der letzte?“ dann steht man HINTEN an und wartet- genau so in Kanada. Es gibt Länder die es können- alle andern sind einfach unhöflich und unerzogen- keine Ausrede. Schweizer sind NICHT heilig, im Gegenteil- machen Sie sich keine Illusionen.

  • Klaus Fleisch sagt:

    Ich hoffe nur das auch so gedrängt wird, wenn es in die letzte Kiste geht! wie das Heute üblich ist/geworden ist, so kann ich noch lange und in vielen Schlangen stehen 😉

  • Marco Affolter sagt:

    Doch, doch… Schweizer können. Sie wollen bloss nicht. Weil der Egoismus grassiert. Jeder ist sich selber am Wichtigsten. Die Drängler unter den Schweizern müssen aber kaum Konfrontationen fürchten. Ausser bei mir, denn ich reagiere heftig und direkt. Genauso, wie es Schweizer gar nicht mögen. Peinliche Situationen sind mir egal und die Etikette eh. Drängelt eine/r vor fall ich ihm beim Bestellen einfach trocken ins Wort und entfache ein kleines Wortgefecht, welches Dränglern sehr peinlich ist. Er/sie läuft rot an und macht die Faust im Sack … köstlich!!! 🙂

  • Marlis sagt:

    finde es rührend wie sich hier alle krampfhaft bemühen die Schweiz mit Ländern zu vergleichen wo Schlangenstehen noch unorganisierter ist.
    Ausgerechnet die Schweiz die sich einbildet das Mekka von Ordnung zu sein- wenn es ums Schlangenstehen geht werden die meisten zum Neanderthaler.

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