Zurück zu den Wurzeln

Richie, der beste Ehemann von allen, hat ein paar alte Kisten aus dem Keller geborgen und dabei nicht nur Madonnas Sex-Buch wiedergefunden, sondern auch ein paar Klassiker, die wir alle als Kinder gelesen haben. Siehe Bild oben. Man betrachtet solche Überbleibsel aus der Kindheit in der Regel leicht nostalgisch. Sowie leicht überrascht. Ich meine: Jim Knopf hat geraucht? Das wusste ich gar nicht mehr. Ich frage mich, ob die Pfeife auf heutigen Ausgaben entfernt wird, so wie ja beispielsweise aus der «Kleinen Hexe» des kürzlich verstorbenen Otfried Preußler das Wort «Negerlein» entfernt worden ist. Wozu Bettina Gaus in der deutschen «taz» völlig zu Recht anmerkte: «Bei der ganzen Diskussion ging es weder um die Haltung des Autors noch um den Kontext des Werks. Sondern nur um Wörter. Offenbar finden einige Eltern es unzumutbar, Kindern zu erklären, dass manche Begriffe im Lauf der Zeit ihre Bedeutung ändern. Ja, dass sich sogar die Zeiten gelegentlich ändern.»
Apropos Eltern und sich ändernde Zeiten: Nachdem man ein Kind war, wird man zum Teenager, und da spürt man üblicherweise eine gewisse Distanz zu Autoritäten, meist verkörpert durch die Eltern (Teenager, die ein ausgezeichnetes Verhältnis zu ihren Eltern haben oder zu haben behaupten, waren und sind mir leicht suspekt). Und dann wird man noch älter und richtet sich sein Leben so ein und noch älter und dann passiert irgendwann das, was meiner alten Freundin Gloria neulich passiert ist. Gloria war essen mit ihrem Ehemann Nils. Als es zum Nachtisch ging, warf Nils einen Blick in die Dessertkarte und erklärte dem Kellner: «Ich nehme Panna cotta mit Himbeeren und Schlagrahm.» «Nils», sagte hierauf Gloria, «das wirst du unmöglich aufessen.» «Und dann», erklärte mir meine Freundin am nächsten Tag, «und dann wurde mir klar: Ich höre mich an wie die Mama. Wenn sie mit dem Papa redet.»
Das weckte Erinnerungen in mir. Vor allem Erinnerungen an mich selbst und an Richie, den besten Ehemann von allen. Beispielsweise ist es so, dass das irgendwie mit den Jahren immer komplizierter zu werden scheint mit dem Gepäck, wenn Rich und ich zusammen verreisen, das Gepäckvolumen nimmt immer mehr zu und ich frage Richie andauernd: Haben wir dies, haben wir das? Dann müssen wir zum Beispiel kurz hinter Palm Springs quasi mitten auf dem Freeway anhalten, weil ich überzeugt bin, dass ich irgendwo mein Portemonnaie liegen liess. Oder wir suchen in Gstaad endlos nach einer blöden Skibrille, die die ganze Zeit im Handschuhfach war. Bei welcher Gelegenheit ich feststellte: «Ach du grüne Neune, Richie. Wir sind wie meine Eltern.» (Es ist nämlich so, dass sich meine Eltern auch ganz gerne mal fünfzehn Minuten unterhalten können nach dem Muster: Hast du dies, hast du das, nein, du solltest das haben …). «Nein», erwiderte der beste Ehemann von allen, «wir sind langsamer.»
Und wenn man erst mal angefangen hat, darauf zu achten, dann beginnt man plötzlich, das grosse Ganze mit anderen Augen zu sehen. Dann erkennt man auf einmal in seiner Beziehung all diese kleinen, scheinbar unbedeutenden Gesten, Verhaltensmuster und Aufgabenteilungen wieder, die einem irgendwoher bekannt vorkommen. Und es ist ja egal, ob es nun Karten für «The Brian Jonestown Massacre» oder die Berliner Philharmoniker sind, der Dialog ist der Gleiche: «Hast du die Karten?» «Ich dachte, du hättest sie.» «Wieso ich?» Und es ist ja nur ein gradueller Unterscheid, ob man auf dem San Bernardino Freeway fährt oder auf einer Rue Nationale im Loiretal, der Dialog ist der Gleiche: «Du fährst sechzig. Du kannst hier achtzig fahren.» «Ich fahre immer sechzig.» «Bei dem Tempo müssen wir aufpassen, dass wir die Ausfahrt nicht verpassen.» Diese Dialoge hat man schon während seiner Kindheit gehört, als man auf dem Rücksitz sass. Und schliesslich wird sie unabweisbar, die Frage: Was soll man tun, wenn man nach soundsoviel Jahren Beziehungsleben plötzlich realisiert, dass man die Ehe seiner Eltern nachlebt?
Denn das ist ja zunächst mal ein Schock, jedenfalls, wenn man aus einem Milieu kommt, nämlich dem bürgerlichen, wo es eben eine Grunderfahrung des Erwachsenwerdens war, dass die Elterngeneration in einer anderen Welt lebte, woraus bestimmte kulturelle Grundmuster resultieren, zum Beispiel die Spannung von Autorität und Rebellion. Deshalb ist es ein Schock, wenn man realisiert, dass ausgerechnet die Eltern das ewige Muster sind, die Rolle, die man nicht los wird, gerade im Verhältnis zu seinem Partner; egal, welches Geschlecht man bevorzugt; egal, ob man formell verheiratet ist oder nicht; egal, für wie kritisch reflektiert man sein Verhältnis zu seinen Eltern hält. Und überhaupt zur ganzen Welt. Dabei war man doch so sicher, ausgerechnet das würde einem nie passieren! Und man kann noch eine Weile dagegen ankämpfen – es hilft nichts. Das sind die Wurzeln. Und vielleicht ist es der letzte Schritt ins Erwachsenwerden, wenn man das endlich eingesehen hat. Darüber hinaus habe ich noch Folgendes realisiert: Ein paar kleine Sachen kann man wirklich anders machen. Zum Beispiel muss man ja nun wirklich nicht unbedingt bei jedem Anruf zuhause so endlos lange Beantworter-Nachrichten hinterlassen wie man sie von seinem Vater kennt. Soviel dazu. Und die mutmasslich teuersten Second-Hand-Kinderbücher der Welt finden Sie hier. Und zum Schluss noch mal Bettina Gaus: «Wenn man damit anfängt, Bücher auf den jeweils korrekten Zeitgeist hin zu aktualisieren, gibt es kein Halten mehr.»
12 Kommentare zu «Zurück zu den Wurzeln»
Wir haben mit unseren Eltern sehr viel gemein. Unsere Charaktereigenschaften sind zu einem hohen Anteil vererbt. Es sollte einen daher nicht überraschen, wenn man mit der Zeit ähnliche Verhaltensweisen zeigt wie seine Eltern. Trotzdem ist es interessant, wenn man solche Verhaltensweisen mit der Zeit an sich selbst beobachtet.
Und noch schlimmer ist es wenn man Kinder hat. Beim Schimpfen erschrickt man immer wieder wie oft man die gleichen Sätze, Wörter und sogar Tonlage der Eltern genau wiederholft.