Sexismus und sexuelle Übergriffe

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Die Beschreibung, wie sich ein 67-jähriger Politiker unter Missachtung deutlicher Signale von Desinteresse an eine junge Journalistin heranzumachen versucht, war durchaus gelungen. Und weil die Journalistin beim Magazin «Stern» schreibt und der Politiker sich gerade als FDP-Kandidat aufstellen lassen will, blieb das ganze nicht ohne Folgen. Die medial bemerkenswerteste davon ist auf Twitter unter dem Hashtag #aufschrei nachzulesen. Zahlreiche Frauen schildern dort ihre Erlebnisse mit dem ganz alltäglichen Sexismus, den man oftmals schon gar nicht mehr bemerkt, sondern achselzuckend als unausweichliche Tatsache hinnimmt.

Viel ist darüber geschrieben worden. Auf Twitter, in den etablierten Medien, der Grundtenor: Oha, jetzt wird endlich dieses wichtige Thema angesprochen. Oder: Erschreckend, was Frauen da so alles erleben müssen, macht betroffen. Oder aber: Die sollen sich mal nicht so haben mit ihrem Opferabo. Auch ich dachte kurz darüber nach, ob ich etwas unter dem Hastag #aufschrei twittern könnte oder möchte. Aber es wollte mir nichts dazu einfallen. Ja, je länger ich auf Twitter #aufschrei-Tweets las, desto unbehaglicher wurde mir zumute, auch wenn ich zunächst nicht begriff, warum. Denn Alltags-Sexismus ist weit verbreitet und man muss darüber reden. Aber im Eifer des Gefechts verliert man schnell die Kategorien aus den Augen. Und genau weil Sexismus oft diffus daherkommt, ist es wichtig, ein paar Sachen in Erinnerung zu behalten.

Die Bloggerin Meike Lobo hat mein Unbehagen so gut auf den Punkt gebracht, dass ich im Folgenden ihre Überlegungen zum Thema zusammenfassen will, denn besser kann man es nicht sagen. Im Text «Das Schreien der Lämmer» macht sie auf die Schwächen der Debatte aufmerksam. Der Kategorienfehler liegt darin, dass bei all den #aufschrei-Tweets nicht unterschieden wird zwischen sexuellen Übergriffen und Sexismus im Alltag. Doch genau das wäre wichtig, um nicht aus den Augen zu verlieren, worum es geht. Bei sexueller Gewalt handelt es sich um Verbrechen, die geahndet werden müssen. Sexismus ist zwar unangenehm oder geschmacklos, aber kein Verbrechen. Mag sein, dass beides sich aus derselben Wurzel speist, trotzdem sind es zwei verschiedene Paar Schuhe. Wer die beiden vermischt, schreibt Lobo, der dramatisiert das eine und bagatellisiert das andere. Womit sie recht hat.

Das zweite Problem bei der Sexismus-Debatte ist die Definition. Was ist genau sexistisch? Natürlich kann man Definitionen im Internet nachlesen, aber im Alltagserleben variieren die Wahrnehmungen dessen, was als sexistisch empfunden wird (oder nicht) gewaltig. Die eine fühlt sich schon durch einen Blick belästigt, die andere erst, wenn es Übergriffe gibt. Das Empfinden hängt wiederum ab von der jeweiligen Situation, dem Alter, der Lebensphase, in der man sich befindet, dem Interesse am Gegenüber, der Mentalitäten usw. Menschen sind soziale Wesen und interagieren, wobei die Sexualität zu den stärksten Antrieben gehört. Dabei geht manchmal auch etwas schief. Aber nicht jeder ungeschickte Annäherungsversuch ist per se sexistisch.

Der dritte Punkt von Frau Lobo erscheint mir der wichtigste. Sie appelliert nämlich an die Eigenverantwortung der Frauen. Sexismus ist nämlich ein komplexes soziales Problem, allfällige Lösungen liegen in den Händen beider Geschlechter. Es gehe nicht an, schreibt Lobo, von den Männern immer nur Rücksichtsnahme zu verlangen und auf Wohlverhalten zu hoffen. Man müsse seine Grenzen auch deutlich machen. Und das heisst: Nicht einfach stillhalten, hinnehmen, beleidigt sein, ohne seine Grenzen klar zu machen. Man muss mitteilen, wenn man sich belästigt fühlt und zwar möglichst zeitnah und möglichst auch im betreffenden sozialen Rahmen. Erst so können nämlich die Grenzen ausgehandelt werden, die in der Interaktion der Geschlechter gelten sollen. Oder wie es Frau Lobo formuliert:

«Zusammenleben bestimmen. So funktioniert doch soziale Reifung: Männer lernen von Frauen, Frauen lernen von Männern, man spricht gemeinsam darüber, wie man mit unterschiedlichen Bedürfnissen umgehen kann, Menschen [sic!] wachsen aneinander.»

Und das ist der Punkt. Wir können davon ausgehen, dass eine Mehrheit der Männer begreift, dass Frauen keine Objekte sind und auch danach handelt. Für die ist es aber wichtig, nicht einfach unter Generalverdacht gestellt zu werden. Und diejenigen, die es noch nicht wissen, denen muss man es deutlich machen. Das aber ist Aufgabe der Frauen. Drum lieber im richtigen Leben aufschreien, als nur auf Twitter.

Im Bild oben: Gestellte Szene einer übergriffigen Situation im Büro. (Keystone/Gaetan Bally)

46 Kommentare zu «Sexismus und sexuelle Übergriffe»

  • Frank Baum sagt:

    Ein hervorragender Artikel! Ein guter Schritt, die Diskussion in eine sachliche Richtung zu lenken.

  • Katharina sagt:

    Solange in Kommentaren zu betroffener Frauen Männer ohne Widerspruch sagen können, ihr würdet uns nur unter Generalverdacht stellen wollen, solange wird sich nichts ändern. weil damit schon die Diskussion an sich in Frage bzw zurückgedrängt wird.

    Weiter wichtig wäre, dass die ‚Moderation‘ nicht mit Zwang eine bestimmte Richtung der Diskussion vorgibt.

  • tststs sagt:

    Sehr erhellend dazu auch Jauchs Talksendung vom vergangenen Sonntag!
    Dazu zwei Gedanken:
    a) selbstverständlich ist/war das Sexismus, das hat auch nichts mit individueller Wahrnehmung zu tun. Ausser natürlich es kommt ein männlicher Journalist und berichtet davon, dass er auch mit den gleichen Sprüchen von Brüderele angeflirtet wurde. Und selbst einige Sprüche waren sexistisch, da sie sich auf Geschlechtsmerkmale (sex) bezogen…
    b) Ich finde Frau Koch-Mehrin hat es mit der Wahrnehmung auf einen Punkt gebracht: sie empfand es nicht so schlimm, sie hatte sich ja ein dickes Fell zugelegt!

    • tststs sagt:

      Dieses „sich ein dickes Fell“ zulegen sieht sie aber keinesfalls als Option für ihre Töchter; bis dahin soll das, was oft unter dem Deckmantel „flirten“ oder eben „Herrenwitz“ gehandelt wird, endlich mit dem Namen versehen werden, was es wirklich ist: Sexistische Sprüche (nicht unbedingt des Strafprozesses wert, aber sicherlich der sozialen Ächtung….)

  • Tina sagt:

    Toller, sachlicher Artikel der aufklärt ohne zu bagatellisieren oder zu übertreiben!
    Eigenverantwortung der Frau = eines der Schlagwörter im Artikel der Autorin. Allerdings fehlt mir in diesem Zusammenhang der Hinweis auf die KLARE, DIREKTE und UNMISSVERSTÄNDLICHE Kommunikation/Ansprache von Frauen an Männer, was wir (nicht) wollen und dulden. Solange wir das nicht endlich lernen und beherrschen und unsere Bedürfnisse einfach nur so „durch die Blume“ anbringen, haperts im Verständnis!

  • Philippe Wampfler sagt:

    Danke für diese Auseinandersetzung mit dem Thema.
    Mich stört die etwas unkritische Übernahme der These Lobos, dass Frauen sich wehren müssen (und die Implikation, dass sie es können):
    »Man muss mitteilen, wenn man sich belästigt fühlt und zwar möglichst zeitnah und möglichst auch im betreffenden sozialen Rahmen. […] Und diejenigen, die es noch nicht wissen, denen muss man es deutlich machen. Das aber ist Aufgabe der Frauen.« 
    Wer von Übergriffen betroffen ist, hat nicht noch zusätzlich die Aufgabe, die Strukturen zu ändern, die Übergriffe ermöglichen. [Würde gerne mehr schreiben…]

    • Michèle Binswanger sagt:

      Lieber Philippe Wampfler: Sie schreiben über sexuelle Übergriffe, ich schreibe über Sexismus, zwei verschiedene Paar Schuhe. Was Übergriffe angeht, gebe ich ihnen recht. Ich rede aber von der sexistischen Grauzone, über die unter dem Stichwort Sexismus gesprochen wird.

    • Philippe Wampfler sagt:

      Ich schreibe von Übergriffen. Hier muss man keine lange Definitionsdebatte führen: Ein Übergriff ist das, was eine Person als Übergriff empfindet. Vernünftige Menschen wollen nicht, dass sie andere Menschen belästigen. Wie man das genau benennt, spielt für mich keine Rolle. Es die Aufgabe derer, die andere belästigen, ihr Verhalten zu ändern und sich darauf zu achten, wie Menschen auf ihre Handlungen reagieren. Die Betroffenen müssen die Übergriffigen nicht erziehen, meiner Meinung nach.

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